Lullys „Atys“ auf Blu-Ray Disc: Ein vergessenes, barockes Meisterwerk

Xl_atys-lully-dvd-12-21 © Pierre Grosbois

Als „l'opera du Roi“(„Oper des Königs“) gilt Jean-Baptiste Lullys „Atys“, weil sie auf Anstoß des kunstsinnigen und musikalischen Königs Louis XIV komponiert wurde und weil der französische Sonnenkönig nicht nur das Thema gewählt, sondern ganze Passagen selbst gesungen hat. Die Tragédie en musique gilt eindeutig als das Lieblingswerk des Sonnenkönigs, der Lully auch als seinen Hofkomponisten verpflichtete. Sie wurde seit ihrer Uraufführung am 10. Januar 1676 im Schloss Saint-Germain-en-Laye in Anwesenheit und zu großer Zufriedenheit des Königs fast ein Jahrhundert lang mehrfach aufgeführt. Das Stück zeugt auch von seinem Bestreben, Frankreich zum europäischen Kulturzentrum zu machen. Bald geriet das Meisterwerk jedoch in Vergessenheit, bis es drei Jahrhunderte später wiederentdeckt wurde. Dies ist sicher dem Regisseur Jean-Marie Villégier und dem Dirigenten William Christie zu verdanken. Die vorliegende Aufnahme aus 2011 ist eine Wiederaufnahme einer 1987 erstmals in Paris und Florenz realisierten und an der Brooklyn Academy of Music hervorgebrachten Produktion. Sie wurde seltsamerweise erst 10 Jahre später jetzt auf einer DVD und Blu-ray Disc bei Naxos Nr. NBD0132V veröffentlicht.Der Komponist schuf damit eine praktisch neue Gattung, die tragédie lyrique.

Die Handlung basiert auf Ovid und erzählt vom Hohenpriester Atys, der von der Göttin Cybele geliebt wird. Er verehrt aber wiederum die Nymphe Sangaride, die hingegen einen engen Freund (den phrygischen König Celænus) heiraten soll. Davon weiß Cybele aber nichts und erhält von Atys eine Abfuhr. Bei der finalen Rache beginnt Atys mit Hilfe der Zauberkünste der Furie Alecton zu halluzinieren. Er ersticht die ihm als Monster erscheinende Sangaride mit dem Opfermesser. Wieder bei Sinnen metzelt Atys sich selbst. Die trauernde Cybele verwandelt ihn in ihre Lieblingspflanze, eine Pinie.

Villegier lässt das gesamte Drama in einen einzigen punkvollen Raum von Versailles als barockes Gesamtkunstwerk mit opulenter Ästhetik in Ausstattung und auch Tanz spielen. Offenbar hat man versucht, den Stil der Uraufführung so weit wie möglich zu rekonstruieren. Das bedeutet, dass Bühnenbild, Kostüme, ja sogar die Choreographie uns auf eine Zeitreise in das 17. Jahrhundert schicken. Es gelingt tatsächlich, den Zauber dieser höfischen Aufführung unter seiner eleganten und zurückhaltenden Regie, die mehr Wert auf Tableaus denn auf detaillierte Personenführung Wert legt, neu erstehen zu lassen.  

Die Rolle des Atys ist sowohl physisch als auch stimmlich anspruchsvoll und wird vom Schweizer Tenor Bernard Richter hervorragend umgesetzt. Sein schlanker, technisch gut geführter und höhensicherer Tenor zeigt auch am Ende der dreistündigen Aufführung noch keine Ermüdungserscheinungen. Die französische Sopranistin Emmanuelle De Negri verfügt als Sangaride über einen schönen, lyrischen Sopran.  Der weiche, flexible Mezzosopran von Stéphanie d‘Oustrac als Cybele komplettiert die Dreiecksbeziehung. Auch sonst ist das große Ensemble bis in die kleinsten Rollen vorzüglich besetzt. Die Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Fetes Galantes zeigen choreographisch Hinreißendes. 

Die Musik ist ein Exempel von hochgradig kunstreichem, französischem Hochbarock und ist vom Feinsten. Der in Frankreich lebende Dirigent und Cembalist William Christie ist ein stets neugieriger und vitaler Pionier der Alten Musik. Er trifft mit seinem Originalklangensemble Les Arts Florissants funkensprühend immer den passenden Tonund agiert mit klarem Gespür für den nötigen Stil.

Dr. Helmut Christian Mayer

| Drucken

Mehr

Kommentare

Loading