
Es ist dieser weitausladende Mammutbaum, der in der Inszenierung von Andrei Serban aus 2005 bei Jules Massenets „Werther“ die Bühne der Wiener Staatsoper dominiert. Durch seine Blätter werden die Jahreszeiten widergespiegelt (Ausstattung: Peter Pabst). Unter ihm und in ihm, durch einen Steg ist er begehbar, läuft das tragische Zieldrama ab. Entsprechend der Zeit ist auch das Mobiliar. Die Handlung mit entsprechenden Kostümen wird in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts verlegt. Warum wird einem eigentlich nie so richtig klar. Da sieht man eine Hollywoodschaukel, Plastikstühle, uralte TV - Geräte und Kinder im Badeanzug. Eigentlich hat man sich an die Ausstattung schon gewöhnt. Aber abgesehen von manchen Unnotwendigkeiten bei der Ausstattung punktet der polnische Regisseur mit detaillierter und punktgenauer Personenführung durch die bewegende, vor allem im letzten Bild packende Momente entstehen lassen. Und alle finden sich in der Inszenierung recht gut zurecht.
Wie schon mehrfach zuvor steht auch jetzt bei der Wiederaufnahme Bertrand de Billy am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper. Unter seiner Leitung erlebt man einen eleganten Klang mit vielen erkennbaren Strukturen und facettenreicher Differenziertheit. Allerdings gelingt es ihm erst, im zweiten Teil die gewünschten Emotionen reichlich zu wecken. Und manchmal schöpft er jedoch zu sehr aus dem Vollen und macht es den Sängern nicht immer leicht.
Wiewohl sehr zurückhaltend beginnend, gefällt Kate Lindsey, wie schon in anderen Rollen hier so oft, auch diesmal wieder bei ihrem Rollendebüt an der Wiener Staatsoper als Charlotte: Optisch wie eine Art Grace Kelly – Verschnitt hergerichtet, singt sie die Partie vor allem im zweiten Teil betörend schön, mit sanftem und innigem Ausdruck und reichen Emotionen zum Finale. Sie kann auch ihre unterschiedlichsten Gefühlsregungen, ihr Changieren zwischen Sehnsucht und Zerrissenheit bestens artikulieren. Allerdings wird sie vom Orchester fallweise zugedeckt. Dasselbe gilt bei Matthew Polenzani als Titelheld, der mit viel Schmelz, lyrischer Emphase und absoluter Höhensicherheit den unglücklich, berührend leidenden Verliebten Werther singt. Die bekannte Arie „Pourquoi me réveiller“gelingt ihm vortrefflich. Clemens Unterreiner ist ein nobeltimbrierter, bewusst zynisch, kalt und unsympathisch gezeichneter Albert. Florina Ilie, ebenfalls eine Rollendebütantin, singt sauberst eine mädchenhafte, zwitschernde, Sophie. Gut besetzt sind auch die kleineren Rollen mit Hans Peter Kammerer (Le Bailli), Matthäus Schmidlechner (Schmidt) und Alex Ilvakhin (Johann). Vital und fröhlich singen die Kinder der Opernschule, homogen erklingt der Chor der Wiener Staatsoper.
Zum Schluss gibt es für alle viel Applaus!
Dr. Helmut Christian Mayer
10. März 2025 | Drucken
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