Alida und Asle lieben einander, sind minderjährig, arm und nicht verheiratet. Sie ist hochschwanger, weshalb sie auf Herbergssuche in einem norwegischen Küstenort sind. Absage folgt auf Absage. Asle beantwortet die ihnen entgegenschlagende Gefühlskälte mit roher Gewalt. Nach drei verübten Morden verfällt er der Lynchjustiz der norwegischen Dorfgemeinschaft. Alida ehelicht den älteren Asleik. Schließlich geht Alida ins Meer, um mit ihrem toten Geliebten eins zu werden.
Das ist die gnadenlos deprimierende Handlung der Opernballade„Schlaflos" von Peter Eötvös (Uraufführung 2021 in Berlin), die jetzt am Grazer Opernhaus (als Koproduktion mit dem Staatstheater Braunschweig) ihre österreichische Erstaufführung erlebt und erstmalig in deutscher Sprache aufgeführt wird. Irgendwo zwischen Road-Movie und Weihnachtsgeschichte angesiedelt, setzt sie eine Spirale von Tod und Verzweiflung in Gang. Der ungarische Komponist, der soeben seinen 80. Geburtstag feierte, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Tonschöpfer. Werke, wie „Die drei Schwestern“ (Wiener Staatsoper 2020) sowie „Der Goldene Drache“ (Wiener Kammeroper 2023), „Angels in America“ (Salzburger Landestheater 2022) werden regelmäßig aufgeführt.
Wie auch sonst bei seinen Opern verwendet Eötvös auch diesmal zur Vertonung die literarische Vorlage eines zeitgenössischen Schriftstellers. Es ist die erste Novelle „Sleepless“ (2007) aus der „Trilogie“ vom norwegischen Nobelpreisträger Jon Fosse. Daraus hat Mari Mezei ein Libretto mit kluger Szenenfolge destilliert. Fosses Sprache wird darin vereinfacht, wiederholt und betont so die Rohheit der Handlung. Die deutsche Übersetzung besorgte jetzt Errico Fresis.
Regisseur Philipp M. Krenn verortet in seiner Deutung die Parabel mit präziser Personenführung im Berlin der 1980er Jahre, am legendären „Bahnhof Zoo“, wo in einem schmutzigen Bahnhof mit hereinschiebbaren Kulissen (Bühne:Heike Vollmer) viele kaputte und drogensüchtige Typen in Kostümen (Regine Standfuss) dieser Zeit herumlungern. Norwegen und das im Libretto ständig erwähnte Meer kommen nur auf einem riesigen Werbeplakat oder auf Videos vor. Am Ende sitzen Asle und Alida gleich wie am Anfang im gleichen Bild am Boden. War alles nur ein Traum? Dies lässt der Regisseur offen.
Für jede der Szenen hat Eötvös einen der 12 Grundtöne der Oktav als harmonisches Zentrum fixiert. Seine persönlichkeitsstarke Tonsprache wird von meist übereinandergeschichteten Dreiklängen dominiert. Dazu erklingen ein fein gewirktes Streichergespinst und eine reiche und variable, klangfarbliche Palette von diversen Instrumenten. Das Klangpanorama hat eine soghafte, erzählerische Kraft. Zudem kommentiert ein Doppelvokaltrio, exzellent und schwebend im Klang, die Gedankenwelt der Alida.
Diese vielfältige Musik wird von der Grazer Philharmonikern unter dem Chefdirigenten Vassilis Christopoulos hochkonzentriert und eindringlich umgesetzt. Es kommt dabei zu einer faszinierenden Ausdrucksdichte.
Eötvös fordert seine Interpreten stark: Tetiana Miyus singt die fein geführte Partie der Alida blitzsauber mit einem wunderbaren, innigen Schlussmonolog. Mario Lerchenberger ist der zornige, junge, zwiespältige Asle mit strahlenden Spitzentönen. Ohne Tadel sind auch die kleinen aber bedeutenden Partien besetzt, wie Daeho Kim (ein Mann und Asleik), Mareike Jankowski (Alidas Mutter), Iris Vermillion (Alte Frau), Anna Brull (Hebamme), Felix Heuser (Gastwirt und Schiffer), Martin Fournier (Juwelier) und Tetiana Zhuravel (Prostituierte), die mit Koloraturen in extreme Höhen springt.
Das zeitgenössische Werk wurde vom Publikum begeistert angenommen, es reagierte mit frenetischem Jubel!
Dr. Helmut Christian Mayer
17. Januar 2024 | Drucken
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