Es geht um tiefe Leidenschaft, inklusive extremen Sex, um drastische Gewalt bis hin zum mehrfachen Mord, um unentrinnbare Abhängigkeiten und Schuld in einer Spießerhölle: Von allem davon handelt Tobias Pickers Oper „Thérèse Raquin“, die jetzt vom Theater an der Wien in seiner Dependance der Wiener Kammeroper für ein aufregendes Musiktheater sorgt. Denn bei dieser Geschichte, die auf dem gleichnamigen Roman von Émile Zola basiert, ist aber auch gar nichts nett oder gemütlich. Das Libretto verfasste Gene Scheer. Die als junge Frau zwangsverheiratete Thérèse Raquin ermordet mit ihrem Liebhaber Laurent ihren schwächlichen und behinderten Ehemann Camille. So gerät sie in eine Achterbahn der Gefühle und in einen Teufelskreis des Wahnsinns mit einem weiteren letalen Finale, in dem sie auch ihren Liebhaber ersticht, bevor er sie vergiften kann.
Und Regisseur Christian Thausing macht keine Kompromisse und zeigt den Plot als beinharten Naturalismus, schonungslos und drastisch mit einer detailreichen Personenführung, in welcher die einzelnen Typen ideal ausgesucht wurden und diese ideal verkörpern. Er überträgt das Geschehen aus dem 19. Jahrhundert in ein trostloses amerikanisches Kleinstadt-Ambiente. Man sieht eine richtig geschmacklose Spießerwohnung, für das Ausstatter Christoph Gehre ein ungemein detailreiches Einheitsbühnenbild geschaffen hat, und das auch immer wieder in irreale Farben getaucht wird. Alle Sexszenen aber auch die Morde, speziell der gemeinsame in der Badewanne, der dann als Selbstmord getarnt wird, werden extrem dargestellt. Ein Psychotriller pur! Grauen garantiert!
Und wieder musste die Premiere, wegen Erkrankung der vorgesehenen Hauptdarstellerin verschoben werden. Das die eigentliche Premiere überhaupt stattfinden konnte, grenzt fast an ein Wunder, denn die einspringende amerikanische Mezzosopranistin Julia Mintzer erklärte sich glücklicherweise bereit, binnen vier Tagen die extrem schwierige Partie der Thérèse Raquin musikalisch wie auch szenisch einzustudieren. Ein Grenzgang, der sich ausgezahlt hat. Sie ist mehr als eine famose Einspringerin. Sie ist eine Singschauspielerin ersten Ranges und singt die Rolle mit einem für einen Mezzo erstaunlichen Höhen, extrem expressiv mit allen Fassetten und spielt die Thérèse hin und hergerissen zwischen Leidenschaft, Sex und Schuldgefühlen bis zur völligen Entäußerung.
Neben Mintzer gefallen in der auf Englisch gesungenen Oper Timothy Connor als ungemein bühnenpräsenter, extrem viriler Liebhaber Laurent mit wuchtigem Bariton, Andrew Morstein als gekonnt schwächelnder Camille mit höhensicherem Tenor sowie Juliette Mars als „böse Schweigermutter“, die unerbittliche Madame Raquin. Glasklar und bis in die extremsten Höhen singt Miriam Kutrowatz die befreundete Suzanne. Ivan Zinoviev singt deren Mann Olivier mit schönem Bariton sowie ideal auch Hyunduk Kim als Monsieur Grivet in kleineren, aber wichtigen Partien. Insgesamt eine starke sängerische und szenische Leistung von allen.
2001 hat der heute 67-jährige, amerikanische Komponist Tobias Picker diese Story als seine dritte Oper für ein größeres Orchester in Töne gesetzt (die Uraufführung war in Dallas) und 2006 auch eine Kammermusikfassung erarbeitet. Diese ist nun als österreichische Erstaufführung zu erleben. Seine Musik ist ein Mix aus verschiedenen Stilen, sie changiert gekonnt zwischen Tonalität und Atonalität, wobei der Schwerpunkt bei ersterem liegt. Es gibt romantische Anklänge, aber auch solche die an Filmmusik und an das Musical wie auch an Minimalmusic erinnern. Es gibt sogar wunderbare Arien. Sie scheut sich aber auch nicht vor brutalen Ausbrüchen je nach den Stimmungen und der Handlung. All dies wird vom Wiener KammerOrchester unter demDirigent Jonathan Palmer Lakeland hochkonzentriert und packend als Klangrausch umgesetzt.
Zum Schluss gibt es im kleinen aber leider auch nur mittelmäßig besetzten Saal viel Applaus!
Dr. Helmut Christian Mayer
19. Januar 2022 | Drucken
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