Kurt Weill Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny Besuch am 11. September 2022 (Premiere)
Theater Bonn
Ahr-Fluten in der Oper: Regie als moralisches Lehrstück
Von solcher Rückenstärkung kann ein Theater nie genug bekommen. In der Kategorie „Gesamtleistung Großes Haus“ belegt die Oper Bonn in der jüngsten Kritikerumfrage des Magazins Die Deutsche Bühne mit vier Nennungen die Spitzenposition, vor den Theatern Frankfurt und Basel. Hervorgehoben wird unter anderem ein „bewundernswerter Durchhaltewillen“, gegen Widerstände an ambitionierten Projekten festzuhalten. So an der Reihe Fokus ´33, einer „Reise zu den Ursachen des Verschwindens und des Verbleibens“, in der zuletzt Giacomo Meyerbeers Ein Feldlager in Schlesien und Clemens von Franckensteins LI-TAI-PE der Verbannung aus den Spielplänen entrissen worden sind.
Seit der Spielzeit 2013/14 müht sich die Oper der Bundesstadt um eine Neuansicht von Werken des Musiktheaters aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die unter der Repression des NS-Regimes aus den Spielplänen verschwinden und nach dessen Ende in diesen auch nicht oder nur marginal wieder auftauchen. Und um eine Neubesinnung auf Künstler, die von den deutschen Faschisten aus Musikbetrieb und Land ins Exil vertrieben wurden.
Jetzt ist in Fokus ´33 Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny mit dem Libretto von Bertolt Brecht zur Aufführung gelangt. Eine auf Aktualisierung setzende Neuinszenierung von Volker Lösch im Tandem mit dem musikalischen Leiter Dirk Kaftan, Bonns Generalmusikdirektor, die ihr Publikum einerseits beglücken, andererseits verstören und aufrütteln will. Auch für Mahagonny, wie das am 9. März 1930 in Leipzig uraufgeführte Werk in der Kurzfassung zitiert zu werden pflegt, gilt: Die Rezeptionsgeschichte ist mindestens so relevant wie das Stück selbst. Der aus einer jüdischen Familie stammende Gustav Brecher, Generalmusikdirektor der Leipziger Oper und Dirigent der Uraufführung, wird von im Saal verteilten Nazi-Kolonnen so sehr in Bedrängnis gebracht, dass der Dreiakter beinahe abgebrochen werden muss.
Im Oktober 1930 stürmen NS-Gefolgsleute die Aufführung der Weill-Brecht-Parabel in Frankfurt. Knapp drei Jahre später, wenige Wochen nach der braunen Machtübernahme, verlassen Brecher, Weill und Brecht das Land. Von den beiden Musikern gelingt es lediglich dem Komponisten von Mahagonny, bis zu seinem Tod 1950 in New York an frühere Erfolge anzuknüpfen. Zu dem Zeitpunkt ist es bereits zehn Jahre her, dass sich Brecher auf der Flucht vor den NS-Häschern das Leben genommen hat.
Die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, die Brecht in Vorahnung des aufdämmernden Faschismus in Deutschland in 21 Szenen oder auch dramatischen Miniaturen erzählt, ist vieles. Tiefschwarze Abrechnung mit dem ahistorisch begriffenen, weil zeitlich grenzenlos gedachten Kapitalismus und elementare Kritik der menschlichen Antriebe und Bedürfnisse, die die Zerstörung unserer Zivilisation gleichsam zwangsläufig herbeiführen. Den Untergang von Mahagonny wie tendenziell der heutigen Welt unter dem Vorzeichen der Klimakrise als Operndrama.
Brechts fiktiver Topos im Überall und Nirgendwo ist in der Bühnenrealität ein anarchischer Flecken auf einem Wüstenlandstrich, den das auf der Flucht befindliche Ganoventrio Leokadja Begbick, Dreieinigkeitsmoses und Fatty, der Prokurist, gründet. Sie sind darauf aus, sich an den Männern von der Küste zu bereichern, so an den vier aus Alaska anreisenden Holzfällern um Jim Mahoney. Mahagonny ereilt das Schicksal eines neuzeitlichen Babylons. Eine Umwertung, vielleicht Perversion aller menschlichen Werte schafft eine größere Zerstörung als der Hurrikan, der am Ende eh einen Bogen um den Ort macht. Um der Welt den Garaus zu machen, braucht es nicht die Natur. Wir brauchen keinen Hurrikan/Wir brauchen keinen Taifun/Denn was er an Schrecken tun kann/Das können wir selber tun, singt Joe, genannt Alaskawolfjoe.
Der Theaterregisseur Lösch pflegt bei seinen Inszenierungen häufig professionelle Darsteller mit Vertretern unterschiedlicher sozialer Gruppen zusammenzubringen. Bei seiner ersten Bonner Opernproduktion 2020, dem Fidelio von Ludwig van Beethoven, schafft er so auch eine Verbindung der Protagonisten des Stücks mit der Situation von politischen Gefangenen in der Türkei und deren Angehörigen. Bonn am Rhein ist für ihn dann auch ein idealer Schauplatz, Mahagonny mit dem regionalen Hochwasser von 2021, der Flutkatastrophe im Ahrtal, zu verknüpfen. In seinem Inszenierungskonzept ein aktuelles Beispiel für das destruktive Potential des „Systems Mahagonny“.
In Intermedien, Blöcken von Videoeinblendungen, die in die Szenen integriert werden, schildern Bewohner von der Ahr, Opfer der Extremfluten wie Zeugen des Über- und Weiterlebens, von Erlebnissen des Schreckens, von der Traumatisierung wie der Hoffnung auf einen ökologischen Neuanfang. Auch von der neurotischen Sehnsucht mancher Mitbewohner nach den alten Zuständen. Das Kunstwerk Oper weitet sich so zum Raum der Vision, der sozialen Phantasie und der bildstarken Lehrwerkstatt, was Brecht mutmaßlich sehr gefallen hätte.
Das von Ruth Stofer undRoby Voigt geschaffene Videodesign spielt eine zentrale Rolle bei der visuellen Ausgestaltung. Auf einer der Erdkugel nachgebildeten Projektionsfläche wird das Geschehen auf der von Carola Reuther geschaffenen surrealen Bühne in einer Weise gespiegelt, die das Groteske der Bühne mit den Versatzstücken und dem Plastikmüll einer Zivilisation im Niedergang noch ins Absurde steigert, in der Fressen, Lieben, Boxen und Saufen die Maxime bilden. Die Szene der Dekadenz unterstreichen noch Reuthers gemeinsam mit Miriam Schubach kreierte phantasievolle Kostüme. Nichts wird ausgelassen, weder der bayerische Dirndl-Look, noch eine Kollektion von Trainingsanzügen, mit einem großen M beflockt, noch das Orange der Guantanamo-Gefangenen oder das Shirt in den politischen Regenbogenfarben. Skurril und gekonnt ist der Auftritt der Mädchen von Mahagonny, die ihre groben Reiseklamotten in die Rucksäcke stopfen, um auf die Männer sexy zu wirken.
Löschs Regie-Lehrstück beruht auf einer gesellschaftspolitischen Setzung. Der Mensch unter der Erfahrung der Katastrophe wie im Ahrtal ist prinzipiell zur Veränderung der Natur und Menschheit zerstörenden Konsum- und Lebensweise fähig, wenn er Einsicht gewinnt und Verantwortung übernimmt. Wenn er im moralischen Sinne zum Menschen wird. Auf die Frage, warum eben dieser Mensch im Angesicht der universalen Zerstörungen seine Haltung nicht ändert, und zwar möglichst über Nacht, weiß aber auch der Moralist Lösch keine Antwort. Also muss die Erkenntnis dem Publikum geradezu eingehämmert, die Oper zur Folie einer Weltanschauung instrumentalisiert werden.
Überdimensional werden die Zeugen der lokalen Apokalypse in den von Saskia Benter transkribierten Ahrtal-Gesprächen präsentiert, in voller Breite und Höhe des Bühnenraums. Im Wechsel mit spektakulären Katastrophenbildern aus aller Welt. Vieles wird bemüht, die Dürre, der Tsunami, der schmelzende Gletscher, auch die Migrationskrise in Gestalt des Schriftzuges Angelika am Bug eines Schiffchens. Ausführlich fallen die Schlussstatements von drei Zeitzeugen dicht am Orchestergraben aus, auf die es dem Regisseur noch einmal anzukommen scheint, auch wenn die Botschaft längst platziert ist. Lösch will vieles, zu vieles und schießt so über das Ziel hinaus.
Die Versicherung des Dramaturgen Stefan Schnabel, die Werkintegrität von Mahagonny werde nicht angetastet, steht zumindest auf wackligen Beinen. In der Rezeption des Publikums bleibt vielmehr der Eindruck einer Umwidmung der Vorlage von Weill/Brecht zu einem Aufklärungstribunal hängen. Ambivalent, ohne Zweifel. Es ist zumindest kein Zufall, dass die Kassandra des vergangenen Jahrhunderts, der Club of Rome, in seinem jüngsten Report nicht auf moralische Appelle setzt, sondern auf konkrete universale politische Prozesse.
Bonns Mahagonny, eine große Produktion mit einer langen Besetzungsliste und einem vehement agierenden Chor in Gestalt der Männer und der Mädchen von Magonny, darunter acht junge Damen des Jugendchors des Theaters Bonn, sowie von Darstellern von der Schauspielschule Siegburg, ist unstreitig eine formidable Ensembleleistung. 1930 wendet sich ein großer Teil des Publikums auch gegen die Musiksprache des gerade erst 30-jährigen Komponisten, der unter dem Einfluss der Wiener Schule nichts weniger im Sinne hat als einen Bruch mit der Operettenseligkeit des Berliner Mainstreams. Fast ein Jahrhundert später wird Kaftans Beethoven Orchester Bonn für die souveräne Gestaltung der bizarren Partitur mit ihren Tanz- und Marschrhythmen, Chorgewittern - auch in der Form von Fugen im Stil des Johann Sebastian Bach und gelegentlichen Pastelltönen gefeiert. Nicht zuletzt für den innovativen Einsatz von Saxophonen, allerlei Schlagwerk, Klavier, Zither, Banjo und Bandoneon.
Der prasselnde Beifall gilt auch den acht vorzüglichen Sängerdarstellern in den Hauptrollen. Allen voran dem Tenor Matthias Klink, der den Jim Mahoney singt und ihn als Antihelden gibt, und der Sopranistin Natalie Karl als Jenny Hill, die gemeinsam mit den Mädchen Oh! Moon of Alabama sehnsuchtsvoll intoniert. Sein „Duett“ mit Jenny, in Anlage, im Einsatz der Blasinstrumente und der musikalischen Textur an barocke Passionen heranreichend, avanciert zu einem der zahlreichen musikalischen Höhepunkte.
Susanne Blattert ist mit ihrem mal schmeichelnden, mal schneidenden Mezzo eine prägnante Leokadja Begbick. Martin Koch als Fatty, der Prokurist, Giorgos Kanaris als Dreieinigkeitsmoses, Matthew Peña in der Doppelrolle als Jack O’Brian und Tobby Higgins, Mark Morouse als Bill alias Sparbüchsenbill sowie Tobias Schabel als Alaskawolfjoe überzeugen in ihren Partien, die auch spielerisch einiges verlangen. Haben sie doch alle Texte zu meistern, die stark von der Dramaturgie des Schauspiels geprägt sind.
Das Publikum deckt alle Beteiligten inklusive des Regieteams mit langem frenetischem Beifall ein, der in der überbordenden Dimension augenscheinlich speziell vom jüngeren Teil der Besucher bestritten wird. Offensichtlich hat dieses Mahagonny-Konzept einen Nerv getroffen, zumindest bei ihnen.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Thilo Beu
14. September 2022 | Drucken
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