Der Kreidekreis Alexander Zemlinsky Besuch am 27. Dezember 2024 Premiere am 1. Dezember 2024
Deutsche Oper am Rhein Opernhaus Düsseldorf
Antiexotisches Märchen verzaubert mit einzigartigen Klang- und Sprachbildern
Als Opernkomponist ist Alexander Zemlinsky, 1872 in Wien geboren, Begründer eines romantischen Verismus, ein künstlerisches Phänomen, das sich aller Stile, Traditionen und Moden entzieht. Von seinen neun erhaltenen oder unvollendet gebliebenen Werken, die zwischen 1897 und 1933 entstehen, bevor er 1938 vor dem NS-Regime nach New York emigriert, sind allenfalls drei peripher erhalten. Darunter der Einakter Der Zwerg nach Oscar Wildes Novelle Der Geburtstag der Infantin, der 1922 unter Leitung von Otto Klemperer in Köln uraufgeführt wird.
Ist Zemlinsky im Konzertbetrieb durch Kompositionen von Orchester- und Chorstücken sowie Liedern, mitunter durch Aufführung seiner Vertonung des 23. Psalm für Chor und Orchester ein Begriff, so verbinden ihn Verfechter der Neuen Musik insbesondere mit Arnold Schönberg, dessen Schwager er war, und Erich Wolfgang Korngold. Bei beiden fungiert er als deren Lehrer. Dass nun die Deutsche Oper am Rhein im Düsseldorfer Haus Zemlinskys vorletzte Oper Der Kreidekreis in einer herausragenden Produktion weitgehend mit dem eigenen Ensemble auf die Bühne bringt, ist mehr als eine Fußnote in der ausgehenden bundesweiten Spielzeit. Für das Haus wenige Schritte von Kö und Altstadt, seit Monaten Gegenstand einer heftigen Diskussion um Sanierung oder Neubau mit Tendenz zum ambitiösen Neuanfang, ist es ein Ausrufezeichen. Oper ist lebendig, auch außerhalb des Kernrepertoires.
Der Kreidekreis, 1933 in Zürich uraufgeführt, basiert auf dem gleichnamigen erfolgreichen Schauspiel von Klabund (eigentlich: Alfred Georg Hermann Henschke). Im Zentrum der Geschichte steht die junge Tschang-Haitang, die von ihrer Mutter dem Kuppler Tong für sein Teehaus, de facto ein Bordell, verkauft wird, weil sie von dem Mandarin Ma, einem Gläubiger ihres Mannes, in bittere Armut gestürzt worden ist. Der Prinz Pao versucht sie für sich zu gewinnen, zieht aber bei Ma den Kürzeren. Sein Geld, über das er wie über weit reichenden Einfluss in der auf Korruption gründenden Gesellschaft verfügt, erlaubt ihm,Haitang zu kaufen und sie als Zweitfrau in seinen Palast zu führen. Dort bringt sie einen Jungen zur Welt. Der Säugling wandelt den Charakter des Mandarins zum Guten.
Seine eigentliche Frau Yü-Pei, „Gattin des ersten Ranges“, wird von Eifersucht getrieben. Im Komplott mit Tschao, dem Sekretär bei Gericht, vergiftet sie ihren Mann, beschuldigt Haitang des Mordes und gibt vor, die wahre Mutter des Knaben zu sein. Nach einer Odyssee voller Brutalität und Erniedrigung landet der Fall zunächst vor dem korrupten Oberrichter Tschu-Tschu, danach vor dem Kaiser, in dem die Angeschuldigte Prinz Pao erkennt. Ein salomonisches Urteil, bei dem es Haitang im Gegensatz zu Yü-Pei nicht übers Herz bringt, ihrem Kind weh zu tun, entlarvt die Betrüger und Yü-Pei als Mörderin. Der Kaiser, der gesteht, der junge Mann gewesen zu sein, der sich in Mas Palast in der Nacht des Schicksals mit Haitang in Liebe vereint zu haben, und die Vaterschaft akzeptiert, nimmt die junge Frau zu seiner Gemahlin.
Zemlinskys Werk in drei Akten, denen wie beim Trovatore Giuseppe Verdis Überschriften vorangestellt sind, ist keine Oper im klassischen Sinne. Vielmehr in Musik gefasstes episches Theater, eine Synthese aus Schauspiel und musikalischer Tonmalerei, die dem gesprochenen Wort den Primat überlässt oder gar in Schlüsselszenen völlig schweigt. Prima la parole, anders gesagt. Auf diese parole müssen die Darsteller sekundenschnell aus ihrem vokalen Parlando einschwingen, was einen äußerst exakten Wechsel zwischen den unterschiedlichen Sphären der menschlichen Stimme verlangt. Ausgenommen hiervon ist der Schauspieler und Gast Werner Wölbern als Tschu-Tschu, der den Oberrichter mit maliziöser Eindringlichkeit und regelrechter Freude an moralischer Verkommenheit spielt.
Regisseur David Bösch, Chef des Schauspiels am Theater Linz, verzichtet bei seinem Hausdebüt darauf, das Stück in einem konkreten Bühnen-Realismus spielen zu lassen. Sei es im China der Kaiser-Zeit, sei es in einem operettenhaften Land des Lächelns, sei es an einem bestimmten Ort der Gegenwart, etwa in New Yorks Chinatown. Vielmehr agieren die als real erscheinenden Figuren jenseits aller Pseudoexotik in einem Raum der Zeitlosigkeit, den Bösch „poetischen Realismus“ nennt. Hierfür hat Patrick Bannwart einen weitgehend in Schwarz gehaltenen Raum geschaffen, in dem eine kreisrunde Scheibe, später der forensische Kreidekreis, als Ort der märchenartigen Handlung fungiert.
Mehr noch. Sie trennt innen und außen, dazu gehören und ausgegrenzt sein, der oberen Kaste oder dem Prekariat zugeordnet zu werden. Der Palast Mas ist ein Pavillon mit einem Eingang, der durch einen einfachen Vorhang geschlossen werden kann. Das Symbol greift eine Art Vogelkäfig auf, in dem Haitang wie das Mädchen (Elisabeth Freyhoff) zu Beginn gefangen gehalten werden. Chinesische Schriftzeichen in Weiß, deren Bedeutung den meisten Besuchern verborgen bleiben dürfte, sowie Zeichnungen von Kindern umspielen Aspekte der Erzählung. Schwarz und weiß sind auch die bevorzugten Farben des Kostümbildners Falko Herold. Lediglich Tschu-Tschu im Purpurrot der obersten Richter und Yü-Pei in rubinroter Robe fallen aus diesem Schema. Sie sind unter Moralbegriffen die Spitze der Verderbtheit. Die übergroße bewegliche Kind-Puppe, an der die beiden Rivalinnen ihre Wahrhaftigkeit unter Beweis stellen sollen, ist ein Wunderding aus der Opernwerkstatt (Leitung: Christian Acht).
Im Graben leisten die Düsseldorfer Symphoniker unter Leitung des Oldenburger GMD Hendrik Vestmann Außerordentliches. Kaum lassen sich die vielfältigen Stile, die Vorlieben für die vom Jazz inspirierten Bühnenwerke von Kurt Weill und Ernst Krenek, dessen Johnny spielt auf vor dem Kreidekreis herauskommt, die Intervall- und Rhythmussprünge sowie die zahlreichen unterschiedlichen Soloinstrumente benennen. Es ist dieses Sammelsurium von Saxophon und Gitarre, Mandoline, Banjo und Celesta, von Xylophon, Tamtam und Glockenspiel, das Zemlinskys Schöpfung eigener Klangfarben letztlich ausmacht. Im Kreidekreis berühren sich die Ausdruckswucht des ebenfalls vom Komponisten verfassten Librettos und die Tonkunst, die wie impressionistische Malerei wirkt.
Keineswegs der Regelfall, ist das Düsseldorfer Ensemble mehr als seine Teile, die einzelnen Sängerdarsteller. Als Haitang ist Lavinia Dames eine Spitzenbesetzung. Ihr lyrischer und doch ausdrucksstarker wie höhensicherer Sopran bringt das Märchenhafte wie das Existentialistische der Figur großartig zur Geltung. Sie besticht durch intensives Spiel und große Momente. So auf dem langen Weg nach Peking, verloren und gequält im Schnee, der erbarmungslos auf sie niederrieselt. So in der Gerichtsszene beim Kaiser, die von ihrer tiefen Menschlichkeit geprägt ist. Als ihre Gegenspielerin Yü-Pei beeindruckt Sarah Ferede durch herrische Gesten und listige Bösartigkeit. Sie lebt förmlich die notorische Lügnerin, nicht zuletzt in der Schwurszene vor Gericht, als sie ausgerechnet mit der Lüge ein frivoles Spiel spielt. As Frau Tschang weiß Katarzyna Kuncio zu beeindrucken. Ihr ist lediglich im ersten Akt ein kurzer Auftritt vergönnt. Gleichwohl gelingt es ihr, im Gedächtnis zu bleiben.
Joachim Goltz ist ein Mandarin vom Feinsten. Er konturiert den Machtmenschen wie sein verwundbares Innere mit starker Affinität zu dieser Rolle. Schade, dass er durch den Giftmord allzu früh von der Bühne verschwindet. Als Tschang-Ling, Haitangs Bruder, ist Richard Šveda ein glaubhafter Rebell, der die Würde des Prekariats auf ganz eigene Art zu wahren weiß. Matthias Koziorowski hat als Pao das Glück, vom begehrenden Prinzen zum in der Liebe reüssierenden Kaiser aufzusteigen. Auf dieser Karriereleiter entwickelt sich auch die stimmliche Präsenz des Tenors, der die beiden Seiten eines Imperators, der auch Mann und Mensch sein darf, mit Vehemenz und – je nach Bedarf – Innigkeit zu zeichnen weiß. Cornel Frey gibt den Kuppler Tong mit der Unerbittlichkeit seines Gewerbes. Tschao von Jorge Espino, Sekretär bei Gericht, verwöhnt mit seinem fein nuancierten Bariton, der die Figur aus ihrer Nebenrolle heraushebt. Als Hebamme arrondiert Romana Noack den positiven Gesamteindruck.
Auf ein Opernerlebnis, das viele Besucher im sehr gut gefüllten Haus vermutlich so nicht erwartet haben, reagiert das Publikum mit langem Applaus und Begeisterung für das Sängerensemble sowie das Orchester in Gestalt seines Meisters am Pult.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Sandra Then
30. Dezember 2024 | Drucken
Kommentare