Aufführung in revidierter Fassung nach dem Autograf verspricht mehr, als sie einlösen kann

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Il barbiere di Siviglia Gioachino Rossini Besuch am 21. Juli 2023 Premiere am 15. Juli 2023

Rossini in Wildbad Trinkhalle

Aufführung in revidierter Fassung nach dem Autograf verspricht mehr, als sie einlösen kann

Il barbiere di Siviglia o sia L'inutile precauzione– so der vollständige Titel von Gioachino Rossinis Buffa – mag man als elegantes Lustspiel, als Slapstick-Komödie, als Screwball-Comedy, als innovatives Szenario mit Raum und Requisite wie 2015/16 in Essen oder als Figurentheater wie 2021 an der Staatsoper Wien spielen. Seinem Selbstverständnis zufolge kann Rossini in Wildbad, das Belcanto Opera Festival im Nordschwarzwald, das konzeptionell sich in erster Linie den Werken des Meisters aus Pesaro außerhalb des Kernrepertoires verschreibt, diesen Aufführungstraditionen nicht einfach eine beliebige weitere hinzufügen. Versucht wird Neuland, eine Aufführung auf Grundlage der „revidierten Fassung nach dem Autograf“. Musikalisch eine Ambition, als Musiktheater dank einer leerlaufenden Inszenierung nicht wirklich schlüssig.

Die Wildbader Fassung, vor ihrer Premiere an der Enz am 7. Juli 2023 in Krakau erstaufgeführt, unterscheidet sich nicht gravierend von der Ursprungsversion der Uraufführung von 1816 im Teatro Argentina in Rom. Sie wartet aber mit einigen textlichen und musikalischen Besonderheiten auf. Reto Müller, der die Belcanto-Festivität seit Jahren mit seiner Rossini-Expertise bereichert, hat das Libretto von Cesare Sterbini eines Feinschliffs unterzogen, wie seine modifizierten Übertitel in italienischer und deutscher Sprache belegen.

Die Evaluierung der Partitur erschließt sich wohl nur den Spezialisten. Die Wildbader Produktion setzt phasenweise im Wechsel mit dem Pianoforte auf die Begleitung durch eine Gitarre, so bei Lindoros Kanzone Se il mio nome saper vol bramate, die der Graf Rosina als Ständchen darbringt, und folgt damit Rossinis ursprünglicher Vorstellung. Neu belebt ist Cessa di più resistere, die prächtige letzte Arie Almavivas in der Vorstufe zum Finale des zweiten Aktes, die oft gestrichen wird. Es ist Rossinis Dreingabe an Manuel García, den spanischen Tenor der Uraufführung, auf die er ein Jahr später mit Non più mesta, dem populären Schluss-Rondo der Cenerentola in der gleichnamigen Oper zurückgreift. Absolut organisch fügt sie sich in die Gesamtarchitektur des Finaletto ein und schenkt dem Grafen ein weiteres Bravourstück.

Die größte Abweichung vollzieht allerdings Jochen Schönleber, der Künstlerische Leiter des Festivals sowie Regisseur und zusammen mit dem Kostümbildner Primo Antonio Petris Ausstatter des Wildbader Barbiere anno 2023. Er zieht in Rossinis Buffa eine Rahmenhandlung ein. Zu den berauschenden Klängen der Ouvertüre startet Schönleber die Erzählung der Komödie aus der Traum- oder auch Albtraumperspektive des Doktor Bartolo, der sich zur Veranschaulichung dieser Regieidee in ein Bett im Zentrum der Bühne zum Schlafen legt, das je nach Handlungssequenz wieder hinter der rückwärtigen Bühnenwand verschwindet. Eine Videoanimation in einem Fenster präsentiert Dr. Bart, wie ihn Schönleber in seinem Plot nennt, im Schlaf, mit aufgerissenen Augen.

Zum Schrecken besteht durchaus Anlass. Nicht nur dass Rosy alias Rosina sich eher für einen flippigen Musiker und dessen Begleiter Fig alias Figaro interessiert. Obendrein scheint dieser die Entourage im Hause wie die Gouvernante Berta mit Drogen zu versorgen. Was sich danach mit dem Eintreffen des Grafen vollzieht, der erst einmal mit dem lyrischen Ecco ridente in cielo die holde Morgenröte feiert, ist im Prinzip Sterbinis Handlung.

Wer eine Aufführung von Rossinis Barbiere besucht, entschließt sich primär dazu, um die elegante, spitzige und melodiöse Musik zu genießen, die gleißenden Kantilenen, die sprühenden Duette und die beiden turbulenten Finali zu erleben, nicht aber die Komödie aus der Theatermanufaktur des Pierre-Augustin Beaumarchais. Rossini ist, was PR-Profis eine Marke nennen, Sterbini, auch Librettist von Rossinis Torvaldo e Dorliska, nur Insidern ein Begriff. Über diese simple Erkenntnis stolpert Schönleber mit seiner Idee, einen höchst evidenten Plot noch einmal zu variieren und dies als Teil einer revidierten Fassung auszugeben. Dafür ist die Geschichte einer „unnützen Vorsicht“ einfach zu gut. Es ließe sich auch von Luxus sprechen, wenn nämlicher als der schöne Überfluss definiert wird.

Der gut 200 Jahre alte junge Blockbuster der Komischen Oper ist unter psychologischen Aspekten eine amouröse Jagd im Labyrinth der Triebe. Das Stück kündet von der Leichtigkeit des Seins, das eine Chance hätte, wären die Menschen nicht so hinterhältig wie Dr. Bartolo und nicht so opportunistisch wie Basilio. Von diesem sanguinischen Spirit sind zwar das Philharmonische Orchester Krakau unter der gewieften Leitung von Antonino Fogliani, Musikalischer Chef des Festivals, sowie der glänzend eingestellte Philharmonische Chor Krakau voll erfüllt, auch wenn Paolo Raffo sein Fortepiano stärker strapaziert, als es der Sache bekommt. Das Sängerensemble indessen verlegt sich weitgehend auf eine robuste Stückauffassung, wodurch sich das Schwebende, das Subtile in den Rezitativen wie in den Kavatinen gehörig verliert. Wesentlich hat dies auch mit Schönlebers Personenregie zu tun, die mehr dem groben Muster seiner Extra-Handlung folgt als den Charakteren der Vorlage, die immerhin noch in der Klassengesellschaft am Vorabend der französischen Revolution fußen, zumindest in Spurenelementen.

Einzige, allerdings blendende Ausnahme ist der Tenor César Cortés als Graf Almaviva. Er beeindruckt mit schönem Timbre, Belcanto-Schmelz und der Kunst des Paraphrasierens. Es ist ein reines Vergnügen, nach der Auftrittsarie ihn in All’idea di quel metallo, dem Duett mit Figaro zu erleben. Ein Rendezvous nach Noten, ein spürbares Suchen nach Ergänzung in Harmonie.

Um ihn herum gruppiert sich ein Quartett, das sich in der Annahme wiegt. Rossinis Affetti durch Lautstärke und polterndes Spiel zu erreichen. In der Titelpartie gleicht der Figaro des Baritons John Chest mehr der Figur eines Zirkusdirektors als der des universal einsetzbaren Barbiers. Seine Kavatine Largo al factotum präsentiert er vor einem schwarzen Vorhang in tiefroter Robe, die auch einem Aristokraten gut anstehen würde. Offenkundig eine bewusste Reverenz Schönlebers für Rossini kompositorische Meisterschaft.

Als Bartolo ist Fabio Capitanucci doppelt, wenn nicht dreifach gefordert. Er ist Hauptdarsteller in der Rahmenhandlung, was diverse Stellungswechsel vom Bett seiner Traumexistenz in die Handlung der Komödie verlangt, in der er seine Ränke verfolgt, um das Mündel für sich zu gewinnen. In der Baritonpartie bevorzugt er das derbe Element und die grobe Komik, eben als un dottor della mia sorte.

Die Mezzosopranistin Teresa Iervolino, die auch dem Contralto-Fach zugeordnet werden könnte, ist als Rosina mit ihrer technisch brillianten Stimme, ihrer disruptiven Parforcejagd durch die Gipfel und Täler ihrer Auftritte, solistisch wie in den Duetten, eine starke Besetzung. Schönleber sieht in ihr eben nicht den Typus des anschmiegsamen Bürgermädchens, wie er in vielen Barbiere-Inszenierungen die Bühnen der Welt bevölkert. Vielmehr darf sie, gegen die Konvention gefasst, kess und schrill, als wahre vipera agieren, wie es in ihrer Kavatine Una voce poca fa so trefflich heißt. Ihr massives Selbstbewusstsein ist zugleich aber das Problem dieser Besetzung. Das Waisenkind aus der Komödie mag derweil an der vorbeifließenden Enz spielen. Sanfte Kantilenen sind diesmal auf der Bühne kaum gefragt.

La calunnia è un venticello, Basilios Arie mit den markanten Schlägen der Basstrommel, ist ein Schlüsselstück der Handlung, wenn der Musikmeister Bartolo rät, Almaviva durch Verleumdung madig zu machen. Der Bassist Shi Zong weitet sie mit großem Aplomb zu einem Kabinettstück aus, das beim Publikum vorzüglich ankommt, sich dabei aber fast zu einem Solo-Auftritt verselbständigt. Francesca Pusceddu setzt als Berta alias Marzelline mit ihrer einzigen Aria Il vecchiottto cerca moglie einen Sopran- und einen komödiantischen Akzent. Wie sie es verschmitzt darauf anlegt, Bartolo nach seinem Scheitern bei Rosina für sich zu gewinnen, ist einfach köstlich. Als Fiorello wie als Offizier ist der junge Bariton Francesco Bossi bemüht, Format zu entwickeln.

Wie der anhaltende stürmische Beifall des Publikums ausweist, hat die Kernproduktion von Rossini in Wildbad 2023 ihre Anhängerschaft gefunden. Der Jubel verteilt sich mehr oder weniger in gleicher Intensität über alle Mitwirkenden. Ganz besonders schließt er die Instrumentalisten und Chorsänger aus Krakau ein. Das Festival im Schwarzwald war aus guten Gründen immer auch ein Brückenschlag in die Mitte und den Osten Europas. Dies gilt auch weiterhin.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Patrick Pfeiffer

 

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