Aus einem Totenhaus Leoš Janáček Besuch am 31. August 2023 Premiere
Jahrhunderthalle Bochum
Beklemmend nah: Tcherniakovs immersive Regie fragt nach den Mechanismen der menschlichen Gewalt
Parsifal von Richard Wagner bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen mit visuellen Zusatzinhalten in Augmented Reality. Gleiches einige Wochen zuvor bei der Neuproduktion von Wolfgang Korngolds Die tote Stadt an der Deutschen Oper am Rhein im Theater Düsseldorf. Der in verschiedenen Bereichen der Kunst zu beobachtende Trend, mit immersiven Produktionen - sei es unter Verwendung neuer Technologien, sei es in der Erprobung experimenteller Raumkonzepte - die Grenzen zwischen Akteuren und Publikum durchlässiger zu gestalten, erreicht mittlerweile auch die Oper. Jüngstes Beispiel ist Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von Leoš Janáčeks Aus einem Totenhaus als begehbare Bühneninstallation in der Bochumer Jahrhunderthalle bei der Ruhrtriennale. Sie löst Betroffenheit und Nachdenklichkeit aus, auch Irritationen.
Die letzte Oper des bedeutendsten mährischen Komponisten, 1930 in Brünn uraufgeführt, beruht auf Fjodor Michailowitsch Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus von 1861. Darin schildert der Dichter eigene Erfahrungen aus den vier Jahren, die er als politischer Häftling in einem sibirischen Zwangsarbeitslager erlebt. Janáček, einer der Wegbereiter der realistischen Moderne, verfasst das Libretto in tschechischer Sprache und komponiert eine den slawischen Sprachstil aufgreifende Musik von höchster dramatischer Kraft.
Der Komponist stirbt, bevor er den letzten der drei Akte noch einmal durchsehen kann. Eine vom Theater Brno bei Schülern Janáčeks in Auftrag gegebene Vollendung der Komposition mit einem „versöhnlichen“ Finale wird bis in die 1960-er Jahre für Aufführungen herangezogen. Sie wird danach aber zugunsten der ursprünglichen Fassung und zur Wahrung der Werktreue nicht mehr verwendet.
Anders als die klassische Oper verfügt Aus einem Totenhaus über keine Handlung. Dramaturgisches Prinzip sind Fragmente, Einzelschicksale im Elend des Gefängnisalltags, die sich mosaiksteinartig zum Bild des Kollektivs der Häftlinge formen. Jeder kämpft gegen jeden. Gewalt dominiert. Die Lust an der Unterdrückung, auch in ihrer sexuellen Spielart, zeigt sich unmaskiert. Ein neuer Häftling, der aus politischen Gründen verhaftete Adelige Alexandr Petrovič Goryančikov, wird zur Prügelstrafe abkommandiert. Der Tartar Aljeja wird von einem wahnsinnigen Mitsträfling attackiert. Šiškov berichtet, wie er aus Eifersucht seine Braut Akulina erstach. Luka Kuzmič erzählt, wie er öffentlich ausgepeitscht wurde, nachdem er in einem Gefängnis den grausamen Kommandanten erstochen hatte. Janáčeks monströses Figurentheater – ein verstörender Blick in den Abgrund menschlicher Destruktivität.
Der Komponist macht 1927/28 mit der Vorlage aus dem Russland zur Zarenzeit die Gräuel des Stalinismus erfahrbar und nimmt intuitiv die des Nationalsozialismus vorweg. 2018 lässt Frank Castorf das Stück an der Bayerischen Staatsoper in einem sowjetischen Gulag spielen. Der Regisseur und Bühnenbildner Tcherniakov, aus Moskau emigriert und jetzt in Berlin ansässig, geht einen radikal anderen Weg. Er löst die Vorlage aus ihrer konkreten gesellschaftlichen und politischen Realität, verzichtet auf jede Theaterkonvention, transponiert das Geschehen in einen zeitlosen Spielraum. Dafür bietet sich die Bochumer Jahrhunderthalle mit ihren beeindruckenden Dimensionen und ihrer Industriegeschichte geradezu an.
Zur Imagination des Gefängnishofes in Janáčeks Straflager sind in der Halle Stahlgerüste über drei Ebenen installiert. Die Strafgefangenen, gespielt vom Chor des Nationaltheaters Brno und erweitert um sieben Stuntmen, agieren in heutiger Alltagskleidung (Kostüme: Elena Zaytseva). So unterscheiden sie sich nicht von den Besuchern, die im Parterre den Akteuren nahe sind oder von den beiden Galerien auf sie hinabschauen. Die traditionelle Theaterunterscheidung zwischen „wir“ und „die“ ist aufgehoben.
Von der ersten Szene an, in der der Kommandant den Adeligen verhöhnt und quält, ist das Publikum auf Tuchfühlung mit den Protagonisten, mehr und mehr beklemmend nahe. Die Sträflinge stürzen sich aufeinander, raufen und ringen miteinander, schreien, schwitzen, bluten. Bisweilen bilden sie ein Knäuel, das die Schreckensvision von Menschen als Masse im Sinne von Gustave Le Bons Psychologie der Massen von 1910 heraufbeschwört.
In einer Szene wird dies plakativ. Einige Gefangene drängen sich dicht an Besucher, die vor der Gitterbegrenzung des Gefängnishofes stehen. Sie lassen sich zu ihren Füßen nieder. Es kommt vereinzelt zu Berührungen. Ganz im Sinne seines immersiven Regiekonzepts wird die Trennung zwischen aktiven Darstellern und passiven Beobachtern, zwischen Tätern und Opfern, zwischen „Schuldigen“ und „Unschuldigen“ aufgehoben. Tcherniakov stellt sehr sinnlich die Frage nach den Mechanismen, die einen Menschen gewaltsam werden lassen. Und buchstäblich die daraus folgende in den Raum, wie wir, das Publikum, die Gesellschaft, uns zu diesen Menschen verhalten, voll Verachtung oder Mitleid.
Nachdem ein LKW mit Boxen oder auch Behältern – vielleicht das karge Lageressen? – in langsamer Fahrt durch die Halle gefahren ist, wechselt das Publikum vom vorderen zum hinteren Bezirk des Gefängnishofes. So verschiebt sich die Geometrie dieser Raumkonstellation noch weiter. Die Gewalt zeigt sich in fortgesetzten Spielarten, nicht zuletzt gegen die Figur des Alten, der von Neil Shicoff, über Jahrzehnte gefragter Tenor vor allem im italienischen und französischen Fach, berührend gespielt wird. Am Ende sind über 700 Augenpaare in der Jahrhunderthalle auf die Gefangenen gerichtet, die, in blaues Licht getaucht, als Leichen um einen Tisch platziert sind. Jetzt ist der Ort das Totenhaus, als das man die Welt definieren kann, wenn man die in Kriegen und Unterdrückung geschriebene Geschichte der Menschheit auf einen Begriff bringen möchte.
Ob sich die intendierte Betroffenheit während oder auch im Nachdenken über das Erlebte nach der Aufführung tatsächlich einstellt, kann wohl nur der einzelne Besucher beantworten. Es gibt strukturelle Einwände gegen das Regiekonzept, die zweifeln lassen. Einwände, die das Erlebte nicht schmälern, aber in dem erwarteten Wirkungszusammenhang eine Rolle spielen.
Die immersive Performance bringt jedenfalls anders als jede Theateraufführung der Oper verschiedene Brechungen der Konzentration mit sich. Irritationen ergeben sich schon aus der Position im Stehen oder Gehen in der Halle, auch aus ihrer mehrfachen Verschiebung. Der Primat der Rezeption gehört den Augen, die häufig auf die Laufbänder mit den Übertiteln in Deutsch und Englisch sowie die verschiedenen Monitore gerichtet sind. Diese zeigen über die ganze Strecke der Aufführung den Dirigenten. Der Besucher erfährt sich als Teil einer Inszenierung, in der er physisch und emotional ständig gefordert ist, was Folgen für die volle Wahrnehmung der Musik hat. Ein unvermeidlicher, aber bedauerlicher Effekt. Wird doch in einem Raum, der einer Opernaufführung fremd ist, eine solche aufgeführt.
Janáčeks durchkomponierte Musik ist ein expressionistischer Fries, der das Parlando der einzelnen Akteure trägt und kommentiert. Ariose Anklänge erlaubt der Komponist seinen Protagonisten lediglich in den Monologen, die von der Sehnsucht der Häftlinge nach ihrem früheren Leben geprägt sind. Dennis Russell Davies führt die Bochumer Symphoniker, die an einer der beiden Längsseiten auf einem Podest platziert sind, mit Umsicht und Gespür auch für die gelegentlich ruppige Klangwelt durch die fast zweistündige Aufführung. Eine Klasse für sich ist der von Martin Buchta einstudierte Chor der Janáček-Oper des Nationaltheaters Brno.
Die Sängerdarsteller zeichnen sich durch die große Leidenschaft aus, mit der sie ihre knifflige Aufgabe der Deklamation in dem fordernden Idiom angehen und bewältigen. Namentlich Johan Reuter, Ensemblemitglied der Oper Kopenhagen, als Goryančikov, Leigh Melrose als Šiškov, noch als Alberich im Rheingold der Ruhrtriennale 2015 in Erinnerung, der Luka von Stephan Rügamer, Mitglied des Ensembles der Staatsoper Berlin, der Skuratov des englischen Tenors John Daszak. Ferner der usbekische Tenor Bekhzod Davronov als Aljeja, kürzlich als Anatol Kuragin in Tcherniakovs Inszenierung von Sergej Prokofjews Krieg und Frieden auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper. Last not least der aus Sibirien stammenden Tenor Alexey Dolgov in der Rolle des Šapkin.
Der zunächst zögerlich einsetzende Applaus, der aus einem der Empfindsamkeit Raum gebenden Schweigen aufscheint, wächst sich rasch zu tosendem Beifall aus. Er steigert sich noch, als sich die Sängerdarsteller zeigen. Danach weiterhin für den Gastchor aus der mährischen Heimat des Komponisten und den Dirigenten, der die Symphoniker so ins Licht stellt, dass ihnen die Zuwendung des Publikums sicher ist. Zuletzt, noch einmal gesteigert, für Tcherniakov und das Regieteam.
Die Zustimmung für den Regisseur unterstreicht die Auffassung, dass viele der Besucher in ihm, womöglich in weiteren russischen Künstlern, die im Raum der Demokratie und der offenen Kultur des Westens agieren, so etwas wie eine Hoffnung sehen. Eine Option für eine Veränderung der russischen Gesellschaft von heute. Weg von dem Despotismus der Zaren- und der Stalinzeit, vom Autoritarismus der Gegenwart Russlands hin zu einem Land, in dem Freiheits- und Menschenrechte zählen. Eine Hoffnung, die es bei Dostojewski und Janáček letztlich nicht gibt.
Dr. Ralf Siepmann
C: Volker Beushausen, Ruhrtriennale 2023
03. September 2023 | Drucken
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