Giacomo Meyerbeer Ein Feldlager in Schlesien Besuch am 8. Mai 2022 (Premiere am 22. April 2022)
Theater Bonn
Sie schien schon endlos zu werden, die Geschichte der ersten Wiederaufführung von Giacomo Meyerbeers Singspiel in Lebensbildern aus der Zeit Friedrichs des Großen am Theater Bonn. Vier Mal wird das Spektakel wegen Corona-Infektionen verschoben. Auch die zweite Aufführung nach der geglückten Premiere scheint unter keinem glücklichen Stern zu stehen. Der planmäßige Dirigent des Abends ist verhindert. Dirk Kaftan, Bonns Generalmusikdirektor und musikalischer Leiter der Premiere, ist, als er informiert wird, so weit von der Bundesstadt entfernt, dass er den Stab erst mit dem zweiten Aufzug übernehmen kann. So kommt Jan Arvid Prée, Solo-Repetitor am Theater Bonn, zu seinem Debütdirigat im Opernfach. Eine Aufgabe, die er problemlos löst und für die ihn das Publikum am Ende mit einem Extraapplaus belohnt.
Als hätte das Haus am Rhein sich sein Feldlager geradezu ertrotzen müssen, gelingt am Ende verdientermaßen die Realisierung einer Neuentdeckung. Ein Ausnahmefall unter vielfachen Aspekten im routinierten Theaterbetrieb, der die Erinnerung schaffende Kraft der Oper wieder einmal unter Beweis bringt. Mag das Stück zwischen Preußen-Glorifizierung, Hurra-Patriotismus, Kleinbürger-Idylle und Sanssouci-Kitsch noch so problematisch sein.
In der Nacht zum 19. August 1843 brennt die Berliner Lindenoper nach einer Schusssalve mit richtiger Munition in dem Militärballett Der Schweizersoldat vollständig nieder. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. befiehlt den Wiederaufbau und beauftragt Giacomo Meyerbeer, seit dem Vorjahr Preußischer Generalmusikdirektor, mit der Komposition einer Oper zur Wiedereröffnung des Hauses, was von Wilhelm von Humboldt wirksam unterstützt wird. Auf der Suche nach einem geeigneten Festspiel stößt der Nachfolger Gasparo Spontinis im königlichen Amt auf eine Episode in der Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Sie stellt Friedrich den Großen als zentrale Figur in Kriegswirren dar, denen er dank seines Flötenspiels und des Einsatzes königstreuer Unterstützer entkommt.
Der Komponist wendet sich an Eugène Scribe, den Librettisten seines ersten großen Erfolgs Robert-le-Diable in Paris, und bittet ihn, das Textbuch zu verfassen. Um einen möglichen Aufruhr in der Berliner Presse wegen einer „unpatriotischen Auftragsvergabe“ zu verhindern, wird offiziell der Übersetzer Ludwig Rellstab als Librettist angegeben.
Die Rezeptionsgeschichte des Werks ist nahezu so interessant wie Meyerbeers patriotisches Weihefestspiel selbst. Auch weil sie in die Überlegungen einfließt, die letztlich die Bonner Wiederaufführung auslösen. Nach der Uraufführung am 7. Dezember 1844 avanciert das Feldlager zu einer ersten Repräsentationsoper Preußens, auch auf Grund des Mangels an weiteren patriotischen Stoffen. Meyerbeer ist der Promotor einer wesentlich überarbeiteten Fassung 1847 für Wien, die unter dem Titel Vielka herauskommt. Die Partie einer der beiden Frauenrollen in der Oper singt die populäre schwedische Sopranistin Jenny Lind. Der Komponist setzt auf sie auch schon für die Uraufführung, was sich aber zerschlägt.
Seine Hausse erlebt das Singspiel nach der Revolution von 1848. Die Berliner Intendanz beeilt sich, Berlins Bevölkerung durch Feldlager-Losungen wie Für unsern König unser Blut! auf patriotischen Gehorsam einzuschwören. Vielka erscheint noch gelegentlich auf der einen oder anderen Bühne in Europa.
Nach 1933 werden die Werke des Sohnes des jüdischen Zuckerfabrikanten Jacob Herz Beer unter der Repression des Hitler-Faschismus aus den Spielplänen deutscher Bühnen gelöscht. So ist die erstmalige Wiederaufführung nach wahrscheinlich 130 Jahren, wie die Bonner Operndirektion herausgefunden hat, eine ambivalente Sache. Für die Regie, heißt es in den Programminformationen, bedeute das Stück eine besondere Herausforderung, „weil bei der Rezeption das auf Verleumdung und Rassenwahn basierende Verschwinden von Meyerbeers Musik immer im Bewusstsein ist“. Es geht, um es auf eine Formel zu bringen, um das verschwinden lassen durch das NS-Regime und das verschwunden bleiben in der Zeit nach 1945.
Dem Regisseur Jakob Peters-Messer, seit seiner Chemnitzer Inszenierung der Uraufführung der Urfassung von L’Africaine 2013 unter dem Titel Vasco da Gama als Meyerbeer-Kenner ausgewiesen, gelingt, um diesen Aspekt vorwegzunehmen, die Gratwanderung zwischen purer Wiedergabe von Preußens Gloria und deren Relativierung aus heutiger Perspektive respektabel.
Eigentlich gliedert sich das preußische Singspiel in zwei Teile. Im ersten Aufzug droht dem König die Gefahr, von Reitern der Habsburg-Armee unter Führung des Hauptmanns Tronk festgenommen zu werden. Durch das Eingreifen Vielkas, der Pflegetochter des Hauptmanns Saldorf, und dessen Pflegesohn Conrad, der die junge Roma-Frau liebt und zum guten Schluss auch bekommt, schafft er es zu entkommen. Conrad tauscht mit dem König die Kleidung, was dieser ihm im dritten Aufzug in Schloss Sanssouci durch Begnadigung Leopolds, eines Verwandten Seldorfs, dankt, der unter dem Verdacht steht, ein Deserteur zu sein. Conrad avanciert zum ersten Flötisten der Hofkapelle. In der Musik, betonen Komponist und Librettist, offenbaren sich die wahren Tugenden. Conrads Mut und Königstreue, dazu die Virtuosität des kulturaffinen Regenten. Mit seinem Flötenspiel legitimiert Friedrich seinen royalen Status, als er zwischenzeitlich in die Hände von Tronks Reitern gerät.
Der zweite Aufzug, der andere Teil des Feldlagers, ist unter der preußischen Fahne Pro Gloria et Patria im Kern eine säbel-, trompeten- und paukenrasselnde Hommage auf den König, der auf dem Hintergrund der Handlung zum einsichtsfähigen wie weisen Herrscher stilisiert wird. Dazu verwandelt sich die von Sebastian Hannak geschaffene Lager-Szenerie voller Schlamm und Schilf des Beginns in ein wahres Repräsentationstheater mit Akteuren auf und hinter der Bühne, in den Logen und im Rang sowie zusätzlich auf einer Fläche, die in das Parkett hineinragt. Einige Zuschauerreihen sind auf der Bühne montiert. Die Besucher dort wirken wie Ehrengäste des royalen Pomps, der durch ein omniakustisches Angebot an Blechbläsern und mit Vehemenz singenden Choristen - so der Chor der Grenadiere und Kürassiere - entsteht. Eine auf einen Bühnenprospekt projizierte Videofassung des Geschehens just im time verdoppelt noch den bombastischen Effekt.
In dem martialischen Panorama mit Märschen, Huldigungshymnen wie Heil dir im Sternenglanz, Vater des Vaterlands, heil König dir! und Unterwerfungsbezeugungen liefert der verstärkte Chor des Theaters, blendend einstudiert von Marco Medved, eine Spitzenleistung ab. Insbesondere die preußische Soldateska in Sven Bindseils Kostümen, denen der auf Marketenderinnen-Habitus designte Chor der Frauen allerdings nicht nachsteht.
In einer programmatischen Erklärung bemüht sich die Leitung des Theaters, ihre Entscheidung zu rechtfertigen. „Können wir das so spielen, so zeigen, fragten wir uns, wenn mitten in Europa wieder Soldaten in den Krieg ziehen.“ Letztlich habe sie sich entschieden, trotzdem zu spielen, Fragen zur Diskussion zu stellen und auf die Freiheit der Kunst zu setzen. „Insbesondere wenn sie Kontroversen hervorruft. Gerade jetzt.“ Ob diese Rechtfertigung erforderlich ist, mag dahin gestellt bleiben. Dank der Corona-bedingten Verschiebungen der Premiere findet der Regisseur zusätzlich Zeit und Raum, die Distanzierung in seine Inszenierung einzubringen, die eine Essenz seines Konzepts ausmacht. Geht es doch nicht um Pomp, sondern um seine Circumstances.
„Wie kann man eine Kultur hassen? Egal welche?“, beginnt der Text einer Rede Wolodomyr Selenskys vom Tag des Überfalls auf die Ukraine. Peters-Messer lässt sie auf den Bühnenvorhang projizieren und mit dem militaristischen Musikgetöse korrespondieren. Noch eindrucksvoller ist ein Zitat aus dem Bericht eines Grenadiers von der Schlacht bei Lobositz aus den ersten Monaten des Siebenjährigen Krieges. Michael Ihnow, der vom Regisseur dem Stück hinzugefügte Sprecher, verliest den Text des Schreckens mit großer Eindringlichkeit. Absolute Stille im Publikum, während mutmaßlich Bilder von den Gräueln des aktuellen Kriegs in den Gedanken von Besuchern aufscheinen. Grenadiere legen ihre Waffen nieder. Im innovativen Schlussbild inspiziert der Preußenkönig in der Uniform mit dem klassischen Dreispitz zu Tönen seiner geliebten Flöte das Schlachtfest. Choristen haben sich quasi in eine Skulptur hingemetzelter Körper verwandelt. Ein großer Moment der Aufführung und des Theaters.
Obwohl Meyerbeer zur Zeit der Komposition des Feldlagers längst stärker in Paris als in Berlin engagiert und erfolgreich ist, weist die Partitur bei Ausnahme der Chorszenen praktisch keine Bezüge zu der von ihm favorisierten Form der Grand Opéra auf. Vielmehr dokumentieren die Eckaufzüge mit ihrer Nähe zu den Standards der deutschen Spieloper im Stile Webers und Lortzings - dessen Zar und Zimmermann erlebt 1837 seine Uraufführung - die große Fähigkeit des Komponisten, sich auf die Vorlieben des damaligen musikalischen Zeitgeistes einzustellen. Die orchestralen Linien erscheinen bisweilen etwas simpel. Doch ist die Orchestrierung voller Kunstfertigkeiten und bei Einsatz speziell der Flöten, nicht zuletzt der Harfe immer wieder überraschend.
Bestechend die Koloraturenvirtuosität Elena Gorshunovas als Vielka. Von bass-baritonaler Souveränität der Saldorf Tobias Schabels, zuletzt beeindruckender Filippo II. im Bonner Don Carlo. Jussi Myllys, leicht indisponiert angekündigt, gibt den Conrad in guter Verfassung. Martin Tzonev ist ein wuchtiger Tronk und später, als er zum Bediensteten des Königs aufgestiegen ist, voller Witz und Spielfreude. Allenfalls fällt Barbara Senator, in Bonn als Titelfigur in Arabella sowie Yvette in Leonore 40/45 in bester Erinnerung, in der Rolle der Therese, auf Grund eines diesmal überzogenen Vibratos ein Stück ab.
Der zweite Aufzug verlangt vom musikalischen Leiter die Künste eines Dompteurs und Varietékünstlers, der zeitgleich mehrere Ringe in der Luft beherrscht. Kaftan schafft diesen Kraftakt mit dem bestens aufgelegten Beethoven Orchester Bonn furios. Der stimmungsvolle Schlussakt mag dann wie eine Erholung erscheinen, auch wenn er wie im kunstvollen Rendezvous der Vielka mit der Flötensolistin Einfühlungsvermögen am Pult erfordert. Prasselnder Beifall schlussendlich für alle Akteure.
Ob die historistische Präsentation des preußischen Glorias mit seiner naheliegenden Entzauberung auch an anderen Opernhäusern gut aufgehoben wäre, lässt sich nicht ad hoc beantworten. Der Weg ins Repertoire, so er aus kulturpolitischen Gründen wünschenswert wäre, ist auf jeden Fall ein weiter.
Ralf Siepmann
Foto Copyright Thilo Beu
12. Mai 2022 | Drucken
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