Die Meistersinger von Nürnberg Richard Wagner Besuch am 3. Oktober 2024 Premiere
Theater Bonn Opernhaus
Beeindruckende Spielzeiteröffnung gipfelt in spektakulärer Kundgebung für die Freiheit der Kunst
„Fanget an!“ So ruft der Merker. Energisch treibt David den Ritter Walther von Stolzing an, sein Preislied für den Sängerwettstreit beim Johannisfest zu proben. Angefangen hat auch die Oper Bonn mit einer Neuproduktion von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg. Die Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit erweist sich als musikalisch großartiges und szenisch vitales Musiktheater, das Zeichen für die Bewahrung von Kunst und Kultur und den Einsatz für die Verhältnisse setzt, in der sich Kultur in Freiheit weiterentwickeln kann.
Die Spielzeiteröffnung auf den 3. Oktober, den Tag der Deutschen Einheit, zu legen, kann kein Zufall sein, zumal der Standardtermin der Oper Bonn für Premieren der Sonntag ist. Auch die Entscheidung, Wagners künstlerische Antwort auf die Frage, was denn deutsch sei, auf die Bühne zu bringen, deutet auf Vorsatz. Wagners Dichtung offeriert eine Fülle von Quellen, die sich auf deutsche Werte, deutsche Traditionen, deutsche Sprache und Kultur beziehen, ohne eine deutsche Nationalstaatlichkeit zu meinen. Die hat es weder im Nürnberg zur Mitte des 16.Jahrhunderts, in der die Oper spielt, noch zur Zeit der Münchner Uraufführung 1868 gegeben.
Joachim Kaisernennt in Leben mit Wagner die Meistersinger „das reichste Kunstwerk über die Rolle der Kunst, welches im 19. Jahrhundert, ja vielleicht in der Musikgeschichte schlechthin, gedichtet und komponiert worden ist“. Wagners Auseinandersetzung mit der Kunst als meisterliches wie revolutionäres Handwerk, mit der Versöhnung von Kunst und Volk und der Kritik als Anstoß zur Zementierung des Alten und Ermöglichung des Neuen verlockt mit weiteren tiefreichenden Ebenen. Mit dem Verlust, den der Ältere, der Schuster und Dichter Hans Sachs, hinnehmen muss, als er Eva, die Tochter des Goldschmieds Veit Pogner, dem Jüngeren aus der fränkischen Aristokratie überlassen muss. Mit der öffentlichen Erniedrigung, die der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser erfährt, der sich selbst zur Karikatur erstarrter Buchgelehrsamkeit und festgefahrener Regelpoetik macht.
N Aron Stiehl, ausgewiesener Regisseur zahlreicher Inszenierungen, auch von Wagner-Opern, auch von Produktionen in der Bundesstadt, entgeht der Verführung, seine Sicht auf die Kunst im Gesang und die Kunst in der Liebe politisch aufzuladen. Politisch ist lediglich der Rahmen. Zu Beginn ist kurz ein Video vom Nürnberger Reichsparteitaggelände mit dem monumentalen Hakenkreuz zu sehen, was vereinzelte Buh-Rufe auslöst. Sekunden später zeigt das Video seine Sprengung. Nach der Prügelszene des zweiten Akts tauchen seitlich mit einem Knall die Insignien der alten finsteren Zeiten auf, Reichsadler und Nazi-Embleme. Es ist eben immer noch fruchtbar, was da, nach Bertold Brecht, aus dem Schoß kroch.
Im Finale der Festwiese sind Statisten mit Puppenköpfen zu erleben, die den bösen heutigen Geistern wie Trump, Le Pen, Meloni, Weidel, Putin nachgebildet sind. Die zu Pappköpfen denaturierten Gespenster sind schon zuvor einmal in Aktion, wodurch sie der Doppelbödigkeit in Wagners einziger Komischer Oper eine schaurige Ebene der Aktualität einziehen.
Die eigentliche Handlung lässt Stiehl in einem Mehrzweckraum mit Cocktailbar an der rechten Seite und Türen zur Linken spielen. Dessen Innenarchitektur erinnert an den Bauhausstil der 30er Jahre. Im Hintergrund wird der Raum mit einem Theatervorhang abgeschlossen, dessen Grün an den Vorhang im Festspielhaus Bayreuth erinnert. Spätestens bei der Verwandlung der Schusterstube im dritten Aufzug in die Festwiese wird der Effekt wirksam, den Theater im Theater haben kann. Anschaulich und Raum sparend.
Solange der von Timo Dentler und Okarina Peter (Bühne und Kostüme) gestaltete Raum vorgibt, die Katharinenkirche, den Ort der ersten Annäherung von Eva und Stolzing, sowie die Singschul‘ nachzubilden, geht es wenig sakral und eher menschlich, allzu menschlich zu. Die Lehrbuben und Gemeindemitglieder, die alles zur Sitzung der Meistersinger einrichten und dabei sehr realitätsnah das Bild eines Chores im Alltag abgeben, geben sich sehr natürlich. Einige sind abwesend, schlafen, hören über Kopfhörer Musik, bis es endlich losgeht. Einer hantiert mehr schlecht als recht mit Strickzeug. David und Magdalene kopulieren hinter den Stuhlreihen, was nur indirekt durch das Hochfliegen der Beine der Lene, wie David seine Flamme nennt, angedeutet wird.
Seinen Kurs der Entmythologisierung, der Erdung der Wagnerschen Romantik treibt Stiehl mit den peu à peu eintreffenden Meistersingern weiter. Zur Sitzung erscheinen sie in der schlichten Aufmachung, in der sie zuvor noch ihre Handwerke ausgeübt haben. So kann Sachs zu Beginn des zweiten Aufzugs übergangslos seiner Trauer im Monolog Was duftet doch der Flieder nachgehen und des Schusters Hammer im Takt auf das Leder niederfahren.
Im zweiten Aufzug steht die Szene ganz im Zeichen des Johannisfests mit bunten Girlanden, die über die Gasse gezogen sind. Spektakulär gesteigert werden Ausstattung und Bühne im dritten Aufzug, als sich die Szene in eine karnevalistische Festversammlung zu Bonn wandelt. Die Handwerkerzünfte machen mit gestickten Kappen und Schiffchen ihre Aufwartung. Tanzmariechen zeigen, was sie können. Witzig ist die Position der Meistersinger auf der Hinterbühne, versammelt wie der rheinische Elferrat.
Auffallend anders ist Stolzings Erscheinungsbild. Während die einfachen Nürnberger im Look der Nachkriegszeit mit fränkischem Kolorit agieren, tritt der Junker wie ein Landfahrer auf, mit gestreifter Hose, einem Gehrock, auf dem bunte Pins von seinen diversen Ausflügen künden, sowie einem Hut ohne Krempe auf wuscheliger Frisur. In die Welt der Nürnberger Ordnung mitsamt ihren Spielregeln bricht ein Mann ein, der sich als Revolutionär versteht. Der sich in der Montur des Außenseiters auch auf der Festwiese bewegt, als um ihn herum das Tollhaus tobt. Der die Aufnahme in das Großbürgertum scheut. Nicht Meister! Nein! Will ohne Meister selig sein!, ruft er aus, ehe Sachs ihm mit der Vision der alles überwölbenden Kunst einen Ausweg weist.
Die häufig missverstandene Schlussansprache des Sachs, die Warnung vor dem Zerfall des deutschen Volks und Reichs „in falscher welscher Majestät“, womit nach der Wahl Karls V. zum deutschen Kaiser die Dominanz des Spanischen, später des Italienischen und Französischen gemeint ist, löst eine Demonstration eigener Art aus. An beiden Parkettseiten halten Choristen Schilder mit den Namen des Tafelsilbers der deutschsprachigen Intelligenzia hoch. Das Spektrum reicht von Anette von Droste-Hülshoff und Marlene Dietrich bis Thomas Mann und Viktor Ullmann.
Die Beschwörung der Größen des Geistes und der Wissenschaft verknüpft Stiehl mit der sehr heutigen Bedrohung der Kultur und ihrer Voraussetzungen, Toleranz, Frieden und die Freiheit des Wortes. Sind es bei Wagner die „deutschen Meister“, denen unter dem brausenden Choral der Schlussapotheose die Erwartung der Menschen gilt, so richtet sich der Appell des Bonner Theaters auf die kreativen Meister, die schöpferischen Menschen schlechthin. Die Kundgebung wird vom Publikum mit spontanem Beifall quittiert.
Im ersten Aufzug verbreiten die Protagonisten Unruhe. Aktionismus ist angesagt. Mit dem zweiten Aufzug legt sich das merklich. So können sich die Dialoge der Akteure in Wagners genauer musikalischer Charakterzeichnung ungehindert entfalten. In diese Rücknahme passt auch Stiehls Verzicht, die Prügelszene naturalistisch auszuspielen. Die Rauferei wird mimisch angedeutet. Als sich die Menge zu den Seiten hin teilt, liegen einige, die es erwischt hat, regungslos am Boden. Ende gut, alles gut? Nicht ganz. Vorenthalten bleibt dem Publikum der tatkräftige Einsatz der Nürnbergerinnen, die im Textbuch mit Vehemenz und viel kaltem Wasser die Prügelei ihrer Männer beenden.
Schlimm getroffen hat es David, der von da an mit einer Armschiene unterwegs ist. Etwas weniger Beckmesser, weniger als in anderen Inszenierungen. Alldieweil er lediglich einen schmalen Kopfverband trägt, den er nach geraumer Zeit wegwischt wie etwas Lästiges. A propos Beckmesser. Wagner gibt dem Merker in seinen Prosaentwürfen den Namen seines Erzfeindes, des Wiener Kritikers Eduard Hanslick, der mütterlicherseits aus einer jüdischen Familie stammt. Aus dieser Zuschreibung ist über Jahrzehnte gefolgert worden, prominent von Theodor W. Adorno und Thomas Mann, der pedantische Stadtschreiber sei die Karikatur des Juden.
Mit dieser auch faktisch falschen Konnotation räumt Stiehls Personenregie gründlich auf. Joachim Goltz gibt den Beckmesser mit ungeheurem Spielwitz und unerschöpflicher Agilität als den einzig Unbelehrbaren. Ihm gelingen die humoresken wie die melancholischen Züge dieser Figur großartig. Es scheint, als habe der Bariton die Verinnerlichung dieser Rolle seit seinem Auftritt im Theater Mannheim 2018 noch weiter vorangetrieben.
Das Sängerensemble erreicht bei wenigen Abstrichen ein famoses Niveau. In Tobias Schabel als würdigem, stets präsentem Sachs, dem wunderbar textverständlichen Manuel Günther als selbstbewusstem David und in Mirko Roschkowski, der die Rolle des Stolzing mit arioser Innigkeit und – bei Bedarf – strahlender Weite ausstattet, verfügt die Aufführung über herausragende Interpreten. Der von André Kellinghaus einstudierte Chor ist in jeder Beziehung eine Bank. Das Beethoven Orchester Bonn unter Leitung seines GMD Dirk Kaftan erweist sich als souveräner Gestalter der Partitur mit ihrem irrwitzigen Spektrum von den Italianatà des Vincenco-Bellini-Verehrers Wagner bis hin zu den bombastischen choralartigen Crescendi in den Tutti-Passagen.
Sein Preislied, das ihm den Sieg und Eva als Braut bringt, lässt Stolzing in der Formel Parnaß und Paradies enden, der Verbindung von Kunst und Liebe. Stiehls Inszenierung erdet diese Verschmelzung auf sinnfällige Weise. Das Publikum folgt seiner Intention und bejubelt alle Mitwirkenden einschließlich des Regieteams lang und ausdauernd. Zahlreiche Vorhänge und lebhafte Diskussionen hernach.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Bettina Stöß
06. Oktober 2024 | Drucken
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