Cleopatras innere Spaltung: Opernglück mit einer Melange aus Raum, Licht, Kostüm, Dekor

Xl_9492__277_ © Copyright: Karl und Monika Forster

Giulio Cesare in Egitto Georg Friedrich Händel Besuch am 31. Mai 2023 Premiere am 6. Mai 2023

Oper Köln Staatenhaus

Cleopatras innere Spaltung: Opernglück mit einer Melange aus Raum, Licht, Kostüm, Dekor

Das Bild eines Dinosauriers, der in Sekundbruchteilen in sich zusammenfallen könnte, erschreckt am 21. März 1994 das Publikum im Münchner Prinzregententheater. In der Inszenierung der Händel Oper Giulio Cesare in Egittovon Richard Jones und Nigel Lowery an der Bayerischen Staatsoper steht der Dinosaurier für das Ende des Römischen Reiches und den Beginn einer Händel-Renaissance in Deutschland. Sie prägtdie Münchner Intendanz von Peter Jonas und leitet eine neue Ästhetik des Musiktheaters ein, den Übergang von der Repräsentation zur Interpretation.

Knapp 30 Jahre später löst die dritte Szene in Händels Dramma per musica in der Inszenierung von Vincent Boussard beim Publikum zwar Überraschung, aber nicht ein Erschrecken von der Münchner Dimension aus. Der ägyptische König Tolomeo lässt durch seinen Feldherrn Achilla Cäsar den Kopf Pompeos, Cäsars getöteten Widersachers, überreichen, „als Sockel deines Königsthrons“, wie er den Vorgang beflissen kommentiert. Auf der Bühne im Deutzer Staatenhaus ist in dieser Szene Diskretion angesagt. Zu sehen ist lediglich eine Urne, die bei der römischen Delegation immer dann Grausen erzeugt, wenn der Deckel gehoben wird.

Fortan gehört die Aufführung vor allem Händels Musik, was absolut zu begrüßen ist, zählt sie doch mit ihrem satten Streicherklang, den effektvollen Hörnern, der Harfe, den schwelgerischen Melodiebögen, den dreiteiligen Arien und den gewundenen Secco-Rezitativen zu dem Schönsten, was der Komponist auf dem Gebiet der italienischen Oper verfasst hat.

Giulio Cesare in Egitto,entstanden in Zusammenarbeit mit Händels Librettisten Nicola Francesco Haym und fußend auf einem häufig vertonten Text von Giacomo Francesco Bussani, markiert einen der größten Erfolge in der Londoner Ära des caro sassone aus Halle. Der umjubelten Uraufführung im Februar 1724 folgen allein in derselben Spielzeit noch 13 Aufführungen. Auf vierzig bringt sie es in den Folgejahren am Hamburger Theater am Gänsemarkt, in der Stadt also, in der dem jungen Musiker Händel kein Glück beschieden war.

Der Plot schildert eine der größten Lovestorys des Altertums. Caesar hat seinen Feind Pompeo besiegt und ihn bis nach Ägypten verfolgt. Cornelia, Pompeos Frau, bittet Cäsar um Gnade. Im Verein mit Sesto, Sohn des Getöteten, macht sie sich auf, seinen Tod zu rächen. Cleopatra, die Ägypten zusammen mit ihrem Bruder Tolomeo regiert, aber das Recht der Erstgeborenen besitzt, schließt sich den Racheplänen der beiden an und bittet Cäsar um Unterstützung. Aus diesem Szenario entwickelt sich ein turbulentes Spiel um Macht und Liebe. Am Ende tötet Sesto Tolomeo. Cleopatra wird dank Cäsar Königin Ägyptens. Der Römer kehrt nach Italien zurück.

Geht es der Barock-Oper um Affekte, verfolgt der Regisseur mit seiner Inszenierung in erster Linie Effekte. Wie er in einem Interview zur Kölner Produktion erläutert, habe er das Stück sowohl in der Entstehungszeit wie auch in der Gegenwart angesiedelt. Dabei habe er die Moderne neu aus der Sicht des 18. Jahrhunderts erfinden wollen. Ein Vehikel dieser Umkehrung – zumeist werden im Regietheater historische Stoffe in das Heute ge- und verhoben – ist eine von Boussard ersonnene Rahmenhandlung. Eine Theatercompagnie aus der Händel-Zeit führt in Kostümen des Hochbarocks eine Oper über die Begegnung von Cäsar und Cleopatra auf. Ergänzt wird dieses Theater im Theater um den Versuch, Querverbindungen zur Gegenwart aufzuzeigen.

Ein weiteres Vehikel ist der Zeiten- und Kulturmix, den Christian Lacroix in seinen phantasievollen Kostümen walten lässt. Achilla trägt einen Businessanzug, als er Cäsar den Kopf dessen Erzfeind überreicht. Die Ägypter sind im Übrigen „exotisch“ gewandet, bevorzugen bunte Mäntel, Federschmuck und rote Haarfarbe. Tolomeo zeigt sich in einem Anzug, der Nacktsein ausdrückt, wobei er seinen Phallus offen zu Schau trägt. Soll damit eine Assoziation zu Fotos von primitiven Völkern hergestellt werden? Die Römer bevorzugen westliche Moden. Cäsars Feldherrnmantel könnte aus dem Fundus vom Haymarket Theatre stammen, würde aber auch in einer englischen Jagdgesellschaft nicht sonderlich auffallen. Schon äußerlich also ein clash of culture. Eine Kritik des Regisseurs am Eurozentrismus und der westlichen Arroganz?

Unter den speziellen Bedingungen des Staatenhauses, der Ausweichspielstätte für die in Endlossanierung verfangene Kölner Oper, ist die von Frank Philipp Schlößmann entworfene Bühne ein Schauwert par excellence. Nicht, wie man denken könnte, durch die Zitate von ägyptischen Ikonen wie Pyramiden, die natürlich auch zu sehen sind. Der Clou sind mobile Schiebeelemente vorn und im Hintergrund, die ganze oder partielle Wechsel der Schauplätze erlauben, auch Wanderungen der Protagonisten von einem Segment zum anderen.

Dieses Momentum verknüpft sich mit naturalistischen oder symbolistischen Himmels- und Meeresprospekten, die je nach artikulierter Stimmung der Akteure zum Zuge kommen. Gesteigert noch in Verbindung mit einer klugen Lichtregie (Andreas Grüter), die ebenfalls den Emotionen der Darsteller auf der Spur ist. Die für die Barockoper typische vokale Virtuosität im Stehen an der Rampe ist bei Boussard zwar auch der Fall, allerdings durch die spezielle ineinanderfließende Melange von Raum, Licht und Dekor ihrer Sterilität beraubt.

Händels Opera seria – das ist sein Werk letztlich – nimmt das Personal des Stücks nur in Maßen ernst. Ähnlich fällt Boussards Personenführung aus. Ein Sonderfall in seiner Sicht ist die Figur der Cleopatra. Streng orientiert an Hayms Textbuch unterscheidet er die femme martiale unddie femme fatale, sieht er Cleopatra in Bellona, Schwester des Kriegsgottes Mars, und Lidia, den erotisch geprägten Teil dieser Persönlichkeit, gespalten. Folgerichtig gibt er ihr, für die Besucher anfänglich irritierend, auf der Bühne je einen Köper, was sich auch in der Kostümierung vonLacroix manifestiert.

Im seriösen klassischen Zweireiher für den Herrn bewegt sich der machtbewusste, im eleganten langen Kleid der verführerische Teil Cleopatras, von dem sich Cäsar angezogen fühlt. In eben diesen Kostümen erscheint fast zur gleichen Zeit Silke Natho als ihr Double, jeweils in dem anderen Kostüm. Eine Einladung zur Tiefenanalyse, geht doch für Boussard der Konflikt des ganzen Stücks auf die Persönlichkeitsspaltung der ägyptischen Regentin zurück.

Händel ist bei der Uraufführung in der Lage die Hauptpartien aus einem spektakulären Dreigestirn von Vokalstars des Hauses zu besetzen, das seinen geschäftlichen Erfolg wesentlich sichert. Der Mezzosoprankastrat Francesco Bernardi, genannt Senesino, singt Cesare, die Soprandiva Francesca Cuzzoni Cleopatra. In zahlreichen Produktionen und Einspielungen des Werks in den letzten Jahrzehnten haben Countertenöre die Rolle des römischen Eroberers geprägt, von Paul Esswood über Andreas Scholl bis Philippe Jaroussky. Folgt die Kölner Oper dieser Linie mit dem Countertenor Raffaele Pe als römischer Imperator in der Premiere, so ist in der siebten Aufführung seitdem Sonja Runje als Cesare zu erleben.

Die Altistin gibt der zentralen Figur im Personenflechtwerk der Oper sowohl in der Dimension des Imperators wie auch in der des Mannes, der Cleopatras erotischer Ausstrahlung erliegt, Format und Charakter. Beeindruckend ihre Höhe und Koloraturengeläufigkeit. Robust und kämpferisch ihre Gleichnisarie Va tacito, eines der vielen Bravourstücke dieser Oper, das vom Solo-Horn von Markus Wittgens einschmeichelnd umspielt wird. Ergreifend in Alma del gran Pompeo, als er am Grab Pompeos über die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz räsonniert. Giulia Montanari, die mit Kathrin Zukowski als Cleopatra alterniert, zieht in Spiel, Ausdruck und Mimik alle Register des Mythos, der bis heute mit der ägyptischen Herrscherin verbunden ist. Ein Juwel ist ihre Klagearie Piangerò la sorte mia. Die verführerische Schlange erhebt in V’adoro, pupile ihr Haupt. Voll sprudelnder Zukunftserwartung treffen sich die Stimmen von Runje und Montanari in dem Schlussduett Caro/Bella. Trügerisch, wie wir heute wissen.

Mit fünf Arien hat Cornelia, die tragische Figur des Geschehens, einen nicht geringen Anteil an der sängerischen Performance. Adriana Bastidas-Gamboa bewältigt die Herausforderung mit ihrem ausdrucksstarken variablem Mezzo famos. Berührend und mit nobler Attitüde ihre Klage Priva son d’ogni conforto, in der sie den Tod ihres Mannes verarbeitet. Und bezaubernd im Duett Son nata a lagrimar mit Sesto. In der Hosenrolle des Sohnes der Cornelia brilliert Anna Lucia Richter. Silbern geharnischt, im stetigen Kampf mit dem Schwert, das für den Knaben viel zu schwer ist. Entschlossen und virtuos zeigt sie sich in ihrer ersten Händel-Rolle insbesondere in der Rachearie Cara speme, in der sie dem „stolzen Tyrannen“ den Tod androht.

Als Tolomeo, dem Händel vier Jahre später kurz vor Schließung des Haymarket Theatre eine komplette Oper widmet, hat Sonia Prina den schwierigsten Part zu erfüllen. Den Fiesling am Nil hat der Komponist bewusst nicht mit den süffigen Linien ausgestattet, die das übrige Personal kennzeichnen. Um den verruchten genusssüchtigen Jüngling, eine Karikatur aristokratischer Dekadenz, stilecht zu zeichnen, hat die Altistin gezackte Phrasen und disruptive Sprünge zu singen, die häufig in der Deklamation einzelner abgehackter Worte gipfeln. Dies gelingt der Barock-Spezialistin mit einem besonderen Faible für Händel-Rollen technisch souverän. Der Gesamtausdruck verliert indes in Folge ihres sich unschön verändernden Timbres.

Matthias Hoffmann hat als Feldherr Achilla drei starke Auftritte, um sich beim Publikum wirklich unsympathisch zu machen. Sung Jun Cho gibt einen prächtigen Curio. Ruth Häde agiert als Cleopatras Vertrauter Nireno mit Loyalität. Rubén Dubrovsky am Pult des Gürzenich-Orchesters ist Garant eines Abends hoher Barock-Kultur. Unmittelbar vor der Bühne postiert, avancieren die Instrumentalisten zu verlässlichen Partnern der Sängerdarsteller, die die Affekte der Protagonisten einfühlsam ausmalen oder unterstreichen. An der Theorbe (Laute) setzen Simon Linné und Sören Leupold gekonnt rhythmische Akzente. Jordan Ofiesh erzeugt mit dem Einsatz der Solo-Violine im Stehen.

Das Publikum im ansprechend besetzten Saal dankt allen Mitwirkenden mit anhaltendem großem Beifall, der recht schnell in lauten Jubel und Bravi!-Rufe übergeht. Er gilt erkennbar dem Orchester und insbesondere drei Sängerinnen, Bastidas-Gamboa, Richter und Runje. Kein Wunder, die Lovestory vom Nil ist ja auch kein Ruhmesblatt der Männer.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Karl und Monika Forster

 

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