Die Aufführung entzaubert die Ikone und verzaubert mit der Menschlichkeit der Musik und des Komponisten

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Peter Tschaikowski Die Jungfrau von Orléans Besuch 17. Dezember 2022 (Premiere 3. Dezember 2022)

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf

Die Aufführung entzaubert die Ikone und verzaubert mit der Menschlichkeit der Musik und des Komponisten

Guiseppe Verdi vertont 1843 die Geschichte der Jungfrau von Orléans auf der Grundlage des Dramas von Friedrich Schiller. Sein Librettist Temistocle Solera verkürzt das Stück auf den inneren Konflikt der Titelfigur zwischen ihrer göttlichen Berufung, an die sie glühend glaubt, und ihrer Beziehung zu Karl VII., dem im Krieg mit England liegenden König von Frankreich. Der gerade 30-jährige Verdi experimentiert und begeistert sich in Giovanna d’Arco für das Phantastische des historischen Stoffes.

Fast 40 Jahre später greift Peter Tschaikowski nach Schillers Drama, verfasst eigenhändig das Libretto zu seiner Oper Orleanskaja Dewa, die 1881 am Mariinski Theater in St. Petersburg ihre Uraufführung erlebt. Der Komponist ist unglücklich. Er leidet an der Homosexualität, die er im Russland des Zaren Alexander II. nicht ausleben kann, an einer kurzen unglücklichen Ehe. Wie stark biographische Bezüge Tschaikowskis in die Wahl des Stoffes und die Partitur der Tragödie hineinspielen, verdeutlich Elisabeth Stöpplers Regiekonzept an der Rheinoper Düsseldorf.

Im Herbst hat Stöppler mit ihrer Inszenierung von Arrigo Boitos Mefistofele in Hannover mehr irritiert als reüssiert. Jetzt scheint sie sich erneut auf ihre Fähigkeit zu besinnen, die Vermittlung von Deutungszusammenhängen in der Opernregie nicht mit gendergesteuerten Spielereien zu belasten. Ihre sehr spezielle Sicht auf die Heroine der Geschichte Frankreichs im Mittelalter erzählt ungemein viel von der Macht der menschlichen Liebe wie von den Verwüstungen in der Gesellschaft wie in der Psyche des Einzelnen im Falle ihrer Unterdrückung.

Bei Schiller ist die Tochter eines Hirten in dem Dorf Domrémy eine vom Krieg erfüllte Patriotin. Seine Tragödie verfolgt ihren Weg, den König zu gewinnen, an der Spitze der Heerscharen die Befreiung Frankreichs zu erringen und die Heimat vor gewaltsamer Einnahme zu retten. In der Schlussszene wird ihr durch Verklärung jene Transzendenz zuteil, auf der ihr Glaube und ihre Liebe von Seiten des Volks beruhen, bis die Gesellschaft ihr misstraut und ihr den Hexenprozess macht.

Stöppler setzt konsequent auf Desillusionierung. Ihre Johanna ist nicht die geharnischte Jeanne d’Arc der französischen Historienmalerei auf dem Schlachtross, das Visier offen, das Schwert an der Seite. Nicht die absolut Gläubige, auf die die katholische Kirche sie reduziert, auch in Gestalt der Selig- und späteren Heiligsprechung. Vielmehr die junge verletzliche Frau, die in der Liebe zu dem burgundischen, mithin feindlichen Ritter Lionel den Kern des menschlichen Seins erfährt. Musikalisch im ausgreifenden Liebesduett im vierten Akt manifestiert. „Johanna kann heutzutage nur dann eine menschliche Ikone sein“, betont Stöppler in einem Interview im Programmheft, „wenn sie sich für das Leben entscheidet, für die Liebe und gegen Gewalt.“

Die Regisseurin folgt damit konsequent der Intention, die der Komponist in der Musik zu seiner Orleanskaja Dewa in einem gleichsam psychotherapeutischen Selbstversuch verankert. Natürlich gibt es in der Partitur den schmetternden Pomp und das kriegslüsterne Pathos, die dazu beitragen, aus einer friedliebenden Zivilgesellschaft kampfbereite Truppen zu formen. Der von Gerhard Michalski einstudierte Chor der Rheinoper nimmt sich insbesondere dieser Passagen mit einer vokalen Wucht an, die unter die Haut gehen. Es gibt aber in Tschaikowskis Tonlandschaften auch und vor allem in den Dialogszenen eine lyrische Farbe, die sich als „Berührungsmusik“ fassen lässt. Fokussiert durch die bestechenden Solisten der Düsseldorfer Symphoniker in den Sparten Harfe, Flöte, Klarinette und selbst Orgel im letzten der sechs Bilder dieser Oper.

Tschaikowski lässt, weitgehend Schiller folgend, die vier Akte in einer ländlichen Gegend, an einem Schloss, auf dem Schlachtfeld bei Reims und in einem einsamen Wald spielen. Stöppler reduziert diese Schauplätze auf einen einzigen Sakralraum, dessen Chor der Kathedrale von Reims nachgebildet erscheint. In diesem von Annika Haller geschaffenen Bühnenbild treffen alle Beteiligten, die Herrschaft, der Klerus, das Volk, die Soldaten und die Engel, die uns mit den Visionen Johannas vertraut machen, aufeinander. Diese Vorgabe – auch sie eine Desillusionierung, diesmal der Oper als Ort von Ausstattungskunst – generiert eine zwiespältige Anmutung.

Einerseits macht sie das Eingeschlossensein einer Gesellschaft im Ausnahmezustand bewusst, was – wie die gesamte Inszenierung – auch auf die Situation der Ukraine im aktuellen Kriegszustand rekurriert. Es markiert zugleich die Grenzen der Öffentlichkeit, in der darüber entschieden wird, was erlaubt und was auszugrenzen ist. Eine klaustrophobe Abschottung, in der am Ende auch der Krieg seine Zerstörungen anrichtet. Andererseits verringert sie das dramaturgische Bewegungsspektrum der Protagonisten. Rauf auf die Kirchenbänke, runter von ihnen etc. Eine ständige, zuletzt ermüdenden Wiederkehr des Ewiggleichen. Mal steht Johanna siegesbewusst auf dem Altar im Rückraum. Dann der Soloengel (Mara Guseynova, eine zerimoniell beeindruckende Erscheinung), der der Anführerin der Truppen Karls das Schwert überreicht. Später in umgekehrter Reihenfolge.

Su SigmundsKostüme, die historische Anklänge nur höchst bescheiden zulassen, unterstreichen noch den ahistorischen Ansatz Stöpplers. Es geht so viel an Kolorit verloren, worauf Tschaikowski in seiner Musik sehr wohl Wert legt. Woher kommt nur die trostlose Hemmung vieler im Fach der Opernregie, bei historischen Stoffen den Darstellern dieser Geschichten die Kostüme zu verwehren, die zu einem Teil ihre Rolle ausmachen und erst verständlich machen? Wahrlich nicht jede Oper lässt sich ohne Verlust in eine Gegenwart transformieren. Man braucht nur die letzten Produktionen von Richard Wagners Der Ring des Nibelungen in Bayreuth mit der der Deutschen Oper am Rhein zu vergleichen, die im März mit dem Siegfried in der Serie der Wiederaufnahme fortgesetzt wird.

Tschaikowskis Komposition entsteht rund zwei Jahre nach dem Publikumserfolg von Eugen Onegin. Sie ist mit ihrem Farbenreichtum in der Orchestrierung, der subtilen Ausbalancierung der solistischen und der Tutti-Anteile mit diesem teils verwandt, teils zu neuen Ausdrucksformen unterwegs. Als wolle er seine persönliche Misere vergessen, zielt der Komponist auf Großes. Die Jungfrau von Orléans weist alle Elemente einer Grand Opéra auf. Mächtige Chorszenen, wuchtige Ensemblenummern, Ballettmusiken und eine epische Länge. Passagen im vierten Akt rufen die Assoziation zu Giacomo Meyerbeer hervor.

Die Düsseldorfer Symphoniker mit Péter Halász am Pult geben dem fein gewirkten Gefüge aus Solo- und Chornummern, prätentiösen Ensemblestücken, wuchtigen Tanzmusiken sowie dem Zusammenspiel der Musik im Graben wie auf der Bühne ein großartiges Fundament. Hier wird möglicherweise ein Anfang für eine Tschaikowski-Rezeption über die Oper nach Puschkins Versen hinaus gesetzt.

Die russische Mezzosopranistin Maria Kataeva ist in der Titelrolle der Fixstern am Himmel eines wahrlich überzeugenden Sängerensembles. Schon in der ersten ihrer Arien Da, tschas nastal! demonstriert sie die komplette Beherrschung der ganzen Palette an Ausdrucksvarianten, die diese Partie zwischen der Naivität des Mädchens und der Kühnheit der jungen Frau vor Thronen und Tribunalen auf sich hat. Die Tiefe ihrer Stimme wie die Souveränität im Idiom helfen zudem die seelische Spaltung einer Figur zu charakterisieren, die gleichermaßen anrührt wie erschreckt. Die Sopranistin Luiza Fatyol ist in der Rolle der Agnes Sorel, der Geliebten des Königs, so etwas wie der Gegenpol. Blasiert im Auftreten, desinteressiert am Leiden anderer, ein vermutlich gewollter Kommentar der Regisseurin zur Entourage des gegenwärtigen Kremlherrn.

Bei den Männern gehören die Schmelzpunkte der Aufführung den dunklen Stimmen.  So dem Bariton EvezAbdulla als Heerführer Dunois und dem Bariton Richard Šveda als Lionel. Nicht zuletzt dem Bass Sami Luttinen in der undankbaren Rolle des Thibaut d’Arc, der den Weg seiner Tochter nicht versteht und deswegen auch öffentlich bekämpft. Der aus Odessa stammende Tenor Sergej Khomov ist als Karl VII. eine vom Opportunismus der Aristokratie seiner Epoche gezeichnete Gestalt, die keine Skrupel hat, mit Johanna erst zu paktieren und sie dann links liegen zu lassen. Sein musikalisch prächtiges Duett Drog nam kazhdyt mit Abdulla zeigt freilich schon früh, wie schmal der Pfad seiner Macht ist.

Der lautstarke, mit anerkennenden Pfiffen und Bravo-Rufen gespickte Beifall im ansprechend besetzten Haus gilt insbesondere Kateva, Šveda, dem Chor und Halász, dem Dirigenten. Die Ikone der Geschichte mag an Leuchtkraft eingebüßt haben. Über die Johanna auf der Opernbühne lässt sich dies wahrlich nicht sagen. Weitere Aufführungen gibt es an und nach Weihnachten sowie in der ersten Januar-Hälfte.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Sandra Then

 

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