L’amant anonyme Joseph Bologne Besuch am 16. März 2024 Premiere
Aalto Musiktheater Essen
Die launige Zumutung verliert sich in überbordender Diversity der Stile, amüsiert gleichwohl das Publikum
Ein Doppeltitel, eine Haupthandlung die zeitgleich mit ihrer Bearbeitung einhergeht, zwei Sprachen, über 40 Mitwirkende auf der Bühne, nicht mitgezählt die Musiker im Graben in der Stärke eines Kammerorchesters. Mit einem irritierenden, von ideologischen Querströmungen infiltrierten Opernspektakel setzt das Aalto Musiktheater Essen die erste wenig überzeugende Spielzeit der Intendantin Merle Fahrholz fort. Es ist mehr als fraglich, ob der für Mai angekündigte Wozzek von Alban Berg die Saison, die mit einem verfehlten Macbeth von Giuseppe Verdi begann, noch aus dem Feuer reißen kann.
Wäre der Begriff Operette nicht anders konnotiert, böte sich dieser als Diminuitiv an für die Comédie mêlée des Violinisten, Orchesterchefs und Komponisten Joseph Bologne auf ein Libretto von François-Georges Fouques Deshayes nach einem Stück von Stéphanie Félicité de Genlis. Der 1780 in Paris im Haus der Madame de Montesson aufgeführte Zweiakter erzählt von der verwitweten Léontine, der ihr Verehrer Valcour anonym Briefe, Blumensträuße und Geschenke schickt. Neugier und Zuneigung der Angebeteten wachsen. Als sich Valcour in einer von seinem Freund Ophémon arrangierten Begegnung als der anonyme Bewerber offenbart, steht dem Happyend und einem C-Dur-Schlussensemble nichts mehr im Wege.
Warum das Stück, das dramaturgisch in etwa in der Liga des benachbarten Fußballclubs Rot-Weiß Essen spielt, am Aalto eine huldvolle Aufnahme gefunden hat, lässt sich am ehesten mit der Programmatik des Musiktheaters beantworten. Fahrholz hat ihr erstes Spielzeitkonzept unter das Vorzeichen einer Öffnung der überkommenen Aufführungskonvention gestellt. Diese wird als strukturell festgefahren, männlich dominiert und unter Aspekten der Diversität auf und hinter der Bühne als defizitär verstanden.
Überdies verfolgt das Haus unter dem Rubrum Aalto Start:up partizipative Projekte mit Bürgern der Stadt, die sich in den Prozess der Erarbeitung von Opern einbringen wollen. So im Rahmen eines Fotografie-Workshops bei der Weiterentwicklung der Bühne Ivan Ivanovs, die auf Frank Philipp Schlößmanns Ausstattung für La finta giardiniera von Wolfgang Amadeus Mozart beruht. Eine Sammlung dieser Fotos, die den Seelenraum Léontines darstellen sollen, findet dann auch Eingang in Ivanovs Ausstattung. Freilich versteht dies im Publikum praktisch niemand, weil sich die entsprechenden Hinweise im gerade erstandenen Programmheft nicht so rasch finden und lesen lassen.
Bologne, Chevalier de Saint-Georges wird 1745 auf Guadeloupe als illegitimer Sohn des Adeligen George de Bologne de Saint-Georges und einer karibischen Sklavin geboren. Er erhält nach dem Umzug in Paris Musikunterricht, so bei Jean-Marie Leclair, macht als Komponist Karriere. Zudem als Militär während der französischen Revolution in dem einzigen Regiment in Europa, in dem schwarze Soldaten dienen. 1799 stirbt der „Schwarze Mozart“ – dies der Titel eines kanadischen Fernsehfilms von 2003 über ihn – in Paris. Wegen seiner dunklen Hautfarbe erfährt Bologne Diskriminierungen im Pariser Kunstbetrieb. Wie weit eine Haltung der Wiedergutmachung bei der Wahl von Komponist und Stück in Essen eine Rolle gespielt haben mag, darf spekuliert werden.
Keine Spekulation ist die Tatsache, dass L’amant anonyme weder genügend Substanz noch Länge für einen ganzen Opernabend bietet. Die Oper müsste folglich, sollte sie als exklusive Trouvaille eines Originals erhalten bleiben, mit einem zweiten Stück kombiniert werden, etwa aus der Spätzeit des Rokokos oder aus der an Musikkomödien reichen Belle Époque ein Jahrhundert später. Die Regisseurin Zsófia Geréb entscheidet sich für einen anderen Weg. Lädt ihre Inszenierung durch eine Bearbeitung, eben Unerwartete Wendungen, auf, die die Option einer Verschmelzung mit heutigen Kunstformen eröffnet. Hierfür wird Alvaro Schoeck als Verantwortlicher genannt.
Eingebettet ist diese Melange aus Gestern und Gegenwart in einen theoretischen Überbau, der Öffnung und Partizipation verbinden will. Erst wenn es zu einem Zusammentreffen von Zuschauern und Bühnenkünstlern kommt, ist die Regie überzeugt, könne das „Wunder Theater vor Ort“ entstehen, die Öffnung neuer Räume und Perspektiven für eine kurze Zeitspanne. Konsequent wird der Opernabend um eine halbe Stunde im Foyer verlängert, um Akteuren und Publikum Gelegenheit zu bieten, „sich auf Augenhöhe zu begegnen und gemeinsam das Erlebte zu reflektieren“.
Nach der schwungvollen Ouvertüre entwickelt sich ein Bühnengeschehen, das mit heterogen noch gnädig umschrieben sein dürfte. Es folgt ein in Deutsch phasenweise schlampig vorgetragener Text über das Gefühl der Liebe und die Unfähigkeit, diese leben zu können. Rezitiert wird er von Jule Weber, die zusammen mit Jan Seglitz, der später auftritt, als Spoken Word Artists vorgestellt werden. Die anschließende Tenorarie in Französisch geht über in eine Ensemblenummer aus dem Original, die von einem musikalischen Einschub von Stefan Johannes Hanke abgelöst wird, was sich in der Produktion insgesamt drei Mal ereignet.
Diese auf der zeitgenössischen Ebene angesiedelten teils atonalen Kompositionen folgen einem Prinzip der wachsenden Entfernung von der Originalpartitur, was sich im letzten Einschub durch einen hohen und vor allem lautstarken Perkussionsanteil (Patrick Andersson, Oliver Kerstan) manifestiert. Spätestens dann wird schmerzhaft bewusst, dass sich an diesem Abend die bezwingende Atmosphäre einer musikalischen Komödie mit französischem Esprit nicht einstellen wird.
Weitere Stilinterventionen in der Kategorie der Beteiligten an Unerwartete Wendungen liefern fünf Tänzer, die mit Streetdance-Nummern eine heutige Alltagswelt einbringen, die nun absolut von dem Privattheater der Madame de Montesson entfernt ist. Ein Eindruck, den auch die parallel aufgebotene klassische Tänzerin Renate Henze nicht mildern kann.
Mit von der Mixtur ist ein Seniorinnenquartett, das mal als Echokammer Léontines, mal als kleiner Chor agiert. Zusätzlich werden aus dem Essener Ensemble Christina Clark als Zuschauerin und Rainer Maria Röhr als Zuschauer aufgeboten, die den Beweis antreten sollen, dass die Begegnung von Künstlern und Publikum keine Utopie sein muss. Anfänglich sitzen sie in einem Spotlight in der ersten Parkettreihe, vertieft in small talk. Von der bewegen sie sich auf die Bühne, um sich teils gestikulierend, teils vokal in das Geschehen einzubringen, was mal lustig ist und entsprechend vom Publikum quittiert wird, mal störend, weil es eh schon in die Komödie der flauen Dialoge und wilden Gesten keine Ruhe gibt, erst recht keine Intimität.
Öffnung des Theaters, will die Aufführung vermitteln, kann auch ein Mix an diversen Stilarten bedeuten. Dass dieser Stilmix erkennbar auf ein nicht oder noch nicht erreichtes Publikum zielt, sei es jung, sei es nicht kulturaffin, ist im Übermaß erkennbar. Der Opernabend der Absonderlichkeiten erinnert, um ein Bild zu verwenden, an einen munter murmelnden Fluss, der in regelmäßigen Abständen von Schleusen aufgehalten wird, gegen deren Tore er immer wieder anbrandet. Diese öffnen sich erst, wenn das Wasser durch allerlei Dreingaben angehoben, vielleicht auch angereichert wird. Was so entsteht ist kein Fluss, allenfalls ein zivilisierter Strom.
Da letztlich eine Komödie der Urgrund für die launige Zumutung ist, hat Humor wenigstens phasenweise die Chance, gegen die ideologische Bürde anzutreten. Witz hat das von einem Filmteam gedrehte Video, das die Künstlerpaare der Produktion in ihren Originalkostümen bei den Bemühungen zeigt, vom Aalto eine Fahrgelegenheit wohin auch immer zu ergattern. Ein eleganter Übergang zur Einladung an das Premierenpublikum, sich im Foyer mit den Akteuren der Aufführung zu treffen. Quantitativ gelingt dies bei Wein und Pasta gut. Den qualitativen Teil in Gestalt von anhaltendem Beifall im nicht ausverkauften Haus hat es bereits zuvor geliefert.
An den Essener Philharmonikern unter der musikalischen Leitung des Ersten Kapellmeisters Wolfram-Maria Märtig liegt es wahrlich nicht, dass das Panorama an Arien, Duetten und Zwischenspielen blass bleibt. Dafür gibt die Partitur zu wenig her, haben die fünf aufgebotenen Sänger nur spärlich Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen. Als Valcour hat George Vîrban nur eine Arie, aus der er mit Schmelz eine Menge macht. Immerhin mit drei Arien kann die Léontine von Lisa Wittig, die erklärte Hauptperson von Stück und Dramaturgie, brillieren. Tobias Greenhalgh gibt Ophémon energisch. In den weiteren Rollen sind Natalija Radosavljevic als Jeannette und Aljoscha Lennert als Colin angenehme Ergänzungen.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Matthias Jung
18. März 2024 | Drucken
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