Die Magie von Ort und Kunst: Exzellente Musiker verzaubern die Elbphilharmonie in ein Reich der Wonne

Xl_230213_h_ndel_alcina_marc_minkowski_les_musiciens_du_louvre_c_daniel_dittus_21 © Daniel Dittus

Alcina Georg Friedrich Händel Besuch am 13. Februar 2023 Einmalige Aufführung

Elbphilharmonie Hamburg

Die Magie von Ort und Kunst: Exzellente Musiker verzaubern die Elbphilharmonie in ein Reich der Wonne

Der 21. März 1994 gilt als Beginn der Händel-Renaissance in Deutschland. Genauer der Ära der Selbstverständlichkeit, die Opern des Komponisten auch außerhalb von Göttingen, Halle, Karlsruhe, den Orten von Händel-Festspielen, zur Aufführung zu bringen. Im Münchner Prinzregententheater fällt in Giulio Cesare in Egitto die Nachbildung eines Dinosauriers, Symbol des Römischen Reiches und seiner überholten Ordnung, innerhalb weniger Sekunden in sich zusammen. In der Folgezeit wird die Epoche machende Produktion von Richard Jones und Nigel Lowery unter dem Dirigat des jungen Ivor Bolton über einhundert Mal gegeben. Die 42 Opern des großen Sachsen werden in deutschen Musiktheatern zu einer Selbstverständlichkeit, zumindest das Dutzend der populären Stücke unter ihnen.

Knapp drei Jahrzehnte später ist eine konzertante Aufführung von Georg Friedrich Händels Alcina in der praktisch ausverkauften Hamburger Elbphilharmonie nicht nur von dieser Art Selbstverständlichkeit. Sie mag auch als Heimspiel gelten. Bringt doch der begabte Musiker aus Halle/Saale in der Hansestadt mit Almira 1705 seine erste Oper heraus, ehe er sich ein Jahr später auf seine erste Italien-Reise macht. Mit weit reichenden Folgen für die italienische Oper in Europa, zu denen nicht zuletzt das dreiaktige Dramma per musica zu zählen ist, das als Derivat von Ludovico Ariostos Epos Orlando furioso 1735 im Londoner Covent Garden Theatre seine Uraufführung erlebt.

Händel ist der von einem unbekannten Librettisten aufbereitete Stoff nach Orlando zwei Jahre zuvor in Grundzügen vertraut und höchst willkommen, da er ihm – déja-vu! sozusagen – eine Fundgrube für die Schilderung von malerischen Seelen- und Naturlandschaften bietet. Bradamante wagt sich in männlicher Verkleidung in das Reich der Zauberin Alcina, um ihren dort fest gehaltenen Verlobten Ruggiero aus den Fängen der Magierin zu befreien, der zwischen der sinnlichen Liebe zu Alcina und der reinen zu Bradamante schwankt. Ein Sujet, das Richard Wagner zu seinem Tannhäuser reizt. Die Rettung gelingt, und Alcinas Zauberreich versinkt. Alle von ihr Verzauberten erhalten ihre Menschengestalt zurück. Lieto fine einmal mehr. Ogni mal si cangia in bene, sinkt der knapp besetzte vierstimmige Chor, dem je ein Auftritt zu Beginn und zum Ende der Oper anvertraut ist.

Ist mithin eine konzertante Alcina ein Stück Selbstverständlichkeit im Kulturdenkmal an der ehemaligen Johns’sche Ecke über der Mündung von zwei Hafenbecken, so ist das profunde Barockspektakel in seiner exquisiten Ausprägung alles andere als selbstverständlich. Opernglück par excellence ist nur dann zu erwarten, wenn eine Produktion vieles von dem einlöst, was die Reife des Stücks, die Qualität der Besetzung, instrumental wie vokal, sowie die Besonderheit des Ortes versprechen. Wenn sich die Magie der Kunst mit der Magie des Schauplatzes vereint.

Wer die Magie dieser Aufführung entschlüsseln möchte, wird sich vorrangig Marc Minkowski und seinen Musiciens du Louvre zuwenden. Sie setzen die Partitur Händels nicht nur in brilliante Klangarchitekturen um, sondern scheinen diese förmlich zu leben. Die vornehmste Aufgabe eines Dirigenten insbesondere eines historisch informierten Barock-Orchesters ist es, die Musiker in Proben und Projekten so zu raffinieren, dass sie ihr Publikum von den ersten Takten der eröffnenden Sinfonia packen. Dies gelingt dank der kollektiven Virtuosität, dank des satten Streicherapparats, der akribisch ausgemalten Accompagnati und der diesem Werk immanenten Ballettmusiken. Nicht zuletzt dank der großartigen Musiker in ihren Solo-Auftritten, die Händel den Protagonisten zur Ausmalung ihrer affetti gleichsam unter die Kehle schreibt.

Die besten Barock-Dirigenten dirigieren nicht, sie zelebrieren das Werk. Minkowski hat als gelernter Barockfagottist ein enormes Gespür für den Raum, den eine solistische Flöte oder ein Cello in Alleinstellung braucht, um sich voll entfalten zu können. Von großer Subtilität ist seine spezielle Gabe, den Augenblick vor dem Schluss einer Soloarie wie eine Kadenz en miniature zu gestalten, inklusive der inszenierten Pause von bis zu drei Sekunden, bei denen der Herzschlag im Publikum stockt.

Der Franzose strahlt Charisma und gelinde Kostproben von Humor durch seine Mimik aus. Einmal an diesem Abend agiert er offen empathisch. Als Elizabeth DeShong, die Bradamante der Aufführung, auf dem Weg zu ihrem Platz vor dem Notenpult stürzt, hilft er ihr unmittelbar beim Aufstehen und nimmt, an das Publikum gewandt, die Schuld dafür auf sich: „It is my fault!“ Er habe den Auftritt so gewollt, als Teil der para-choreographischen Aufteilung der Sänger im Raum, die auch auf sein Konto gehen dürfte. Die Besucher quittieren seine „Reue“ mit großem Beifall, zumal DeShong nichts zugestoßen scheint und sie couragierter agiert denn je.

Die Alcina der Magdalena Kožená steigert sich nach anfänglicher Zurückhaltung über Ombre pallide bis zur Herz zerreißenden Klagearie Ah! Mio cor mit dem anschwellenden stupenden Ton zu Beginn Stufe um Stufe. Die Mezzosopranistin, geprägt von den Musikschulen in Brünn und Bratislava, ist in der Gestalt der leidenschaftlich liebenden wie maliziös vernichtenden Zauberin das dramaturgische und vokale Zentrum der Aufführung. Ihre Tessitura meistert Händels Koloraturen und disruptiven Kletterpartien mühelos. Ihr Timbre berührt in den innerlichen Passagen stärker als in den dramatischen. Die im Pressetext des Veranstalters als „Operngöttin“ apostrophierte Barock-Spezialistin kann aber die Tatsache nicht einfach wegzaubern, dass ihre Rivalinnen in Ariostos Erzählung wie auf dem Podium zu grandioser Form auflaufen, was mit zu den Prämissen der Magie der Aufführung gehört.

Die Mezzosopranistin Anna Bonitatibus als dem Liebeszauber verfallener Ritter Ruggiero beherrscht von Beginn an Raum und Partitur. Energisch in Artikulation und Körpersprache treibt sie mit ihrer Arie Sta nell’incana, der Erzählung von der unschlüssigen Tigerin in einem Felsloch in Hyrkanien, die Raumtemperatur des Saales spürbar nach oben. Grandios interpretiert sie auch den ariosen Gegenpol, das lyrische Verdi prati. Eine vor Jahrhunderten ersonnene Arie, die uns Heutigen wie eine Vorahnung der Folgen einer möglichen Klimakatastrophe erscheinen mag.

Die Koloratursopranistin Erin Morley ist als Alcinas Schwester Morgana mit ihrem quirligen Organ und einer erfrischenden narrativen Mimik von höchster Präsenz. Ihr Credete al mio dolore, begleitet vom Solo-Cello, von Kontrabass und Theorbe, ist ein Kleinod per se. DeShong ist als Bradamante famos. Die Rachearie Vorrei vendicarmi der Mezzosopranistin lässt Himmel und Erde erzittern und leitet das Ende Alcinas ein. Stilvoll, fast schon elegant und doch noch steigerungsfähig fügen sich die Stimmen von Bonitatibus, Kožená und DeShong im Terzetto Non é amor, nè gelosia mit dem Fokus auf den schwelenden Konflikt. Es ist eine der seltene Ensemblenummern Händels.

Der Countertenor Alois Mühlbacher befindet sich als Oberto auf der Suche nach seinem Vater, den er schlussendlich in einem von Alcina verzauberten Löwen findet. Er beweist in seinen drei bravourös vorgetragenen Solo-Auftritten Format. Sein Weg zu einem Großen der Barock-Szene scheint vorgezeichnet. Valerio Contaldo, in der Rolle des Oronte, des Feldherrn Alcinas, versucht schon mit der anfänglichen an Ruggiero gerichteten Arie Semplicetto! in das Geschehen einzugreifen. Er bleibt aber ungeachtet seines energischen Tenors in der Ausstrahlung hinter der Figur in dem Drama zurück.

Alex Rosen, bestechend als König in der kürzlichen Essener Aufführung von Ariodante unter Leitung des Barockspezialisten George Petrou, ist als Melisso, Vertrauter Bradamantes, mit seinem kernigen Bass eine stattliche Ergänzung des herausragenden Damen-Quartetts.

Das Publikum löst sich aus dem Bann der Zauberwelt, in die es sich über mehr als drei Stunden höchst freiwillig hat verfangen lassen, mit einem lang anhaltenden, herzlichen bis frenetischen Beifall für alle Mitwirkenden. Der junge Händel, gerade 19- jährig, als er am Theater am Gänsemarkt als zweiter Geiger eine Anstellung erhält, hätte sich eine solche Resonanz auf seine Kunst nicht in seinen kühnsten Träumen vorstellen können. Hamburg, vielleicht doch eine Händel-Stadt!

Dr. Ralf Siepmann 

Copyright Daniel Dittus

 

| Drucken

Mehr

Kommentare

Loading