Die Perlenfischer Georges Bizet Besuch am 9. Juni 2024 Premiere
Oper Köln Staatenhaus Deutz
Exotik der Sinne: Die fabelhafte konzertante Aufführung lässt jedes Verlangen nach Inszenierung vergessen
Für die Entscheidung, Georges Bizets frühe Oper Les pêcheurs de perles nicht szenisch, sondern konzertant aufzuführen, dürfte es zahlreiche Gründe geben. Das Image der „Kolonialoper“, das dem Stück wieL’africaine von Giacomo Meyerbeer und Lakmé von Leo Delibes anhaftet. Das der romantischen europäischen Vorstellung einer ursprünglichen außereuropäischen, also exotischen Welt entspringt. Verstärkt durch den Umstand, dass das Stück anfänglich in Mexiko unter Indianern spielen und das Milieu einer „reinen“ Unberührtheit, frei von Dekadenz und materiellem Streben, suggerieren, im besten Fall „naiv“ sein sollte. Die Schwächen der Handlung und die paradiesische Phantastik der Schauplätze, Strand und Tempel im historischen Ceylon, die heute nicht mehr unkritisch gesehen wird. Dazu, nicht unmaßgeblich, die technisch und räumlich begrenzte Situation im Deutzer Staatenhaus, dem Übergangsquartier der Oper Köln.
Rezeptionsgeschichtlich weist der 1863 in Paris uraufgeführte Dreiakter auf ein Libretto der Literaten Eugène Cormon und Michel Carré, dessen Originalpartitur verschollen und nur auf Basis eines erhaltenen Klavierauszugs rekonstruierbar ist, unterschiedliche Annäherungsversuche auf. Die Oper Bonn erreicht im Januar 2015 mit einer konzertanten Aufführung einen Publikumserfolg, der wesentlich mit dem beeindruckenden Sängerterzett Sumi Hwang, Tamàs Tarjáni, Evez Abdulla, letzterer als Zurga, erreicht wird. Filmregisseur Wim Wenders, exotischen Sujets nicht gerade abhold – man denke an Buena Vista Social Club –, scheitert 2017 in der Staatsoper Berlin bei seinem Operndebüt mit dem Unterfangen, auf einer weitgehend leeren Bühne der Geschichte um Liebe, Verlangen und Rache zum Leben zu verhelfen.
Was in der Kölner Premiere im nicht ausverkauften Staatenhaus zu erleben ist, lässt die Erwartung einer szenischen Fassung weit hinter sich. Das famose Solistenquartett, das Gürzenich-Orchester Köln mit Nicholas Carter am Pult sowie der von Rustam Samedov blendend vorbereitete Chor bringen instrumentale Farben und vokalen Glanz mit einer emotionalen Wucht hervor, die den Wunsch nach südlicher Landschaft unter Palmen und den Mauern des Forts von Kandy vollkommen vergessen lassen. In Köln darf Bizet mit seiner an Charles Gounod, Félicien David, Giuseppe Verdi und Richard Wagner orientierten Musik sein, was Oper in ihren Sternstunden ist: Belcanto der glühenden Leidenschaft.
Wie in Carmen, Bizets letzter Oper von 1875, deren Welterfolg der jung gestorbene Komponist nicht mehr erlebt, entwickelt sich das Drama der Perlenfischer aus einer klassischen Dreiecksgeschichte. Hier ein dramatischer Koloratursopran, Sara Blanch, der zwischen einem lyrischen Spinto-Tenor und einem aristokratischen Bariton steht. Kern des Dramas ist die frühere Liebe des zum Oberhaupt der Perlenfischer gewählten Zurga und seines Jugendfreundes Nadir zu einem Mädchen, das ihn in Gestalt der Tempelpriesterin Leïla neu herausfordert. Wie von Schicksalsmächten gelenkt, ist der Jäger Nadir zu den Perlenfischern gestoßen, wodurch er einen doppelten Treuebruch auslöst.
Schlüsselfigur des Geschehens ist Zurga, der sich gegen seine Rachegefühle entscheidet und den Liebenden am Ende die Freiheit schenkt. Es ist gewiss kein Zufall, dass sein äußerst populär gewordenes hymnisches Duett mit Nadir Au fond du temple saint, das die Freundschaft zweier Männer und deren Liebe zur Gestalt der göttlichen Tempelpriesterin preist, sich durch das gesamte Stück zieht. Acht Mal kommt die Tonfolge vergleichbar Leitmotiven bei Wagner und Puccini in verschiedenen Formen und Tonarten vor, ohne indes eine Weiterentwicklung zu erfahren.
Bizets Bilderbogen der pittoresken Töne, voll von chromatischen Variationen, gespickt mit orientalischen und fernöstlichen Klängen, zeigt die Meisterschaft des 25-jährigen Komponisten, die Musik in den Dienst exotischer Sinnlichkeit zu stellen und zugleich den Glanz des italienischen Belcanto zu beschwören. Immerhin liegt zum Zeitpunkt der Uraufführung der Perlenfischer Vincenco Bellinis letzte Oper I Puritani fast schon 30 Jahre zurück. Dem Gürzenich-Orchester Köln unter der vehementen musikalischen Leitung Carters, der sein Köln-Debüt gibt, gelingt es großartig, die ganze Bandbreite von der melodischen Lyrik bis zu den kraftvollen Momenten dank robusten Blechs zur Geltung zu bringen. Ergänzt, unterstützt, bisweilen überhöht vom Chor, der nahezu ständig präsent ist, die Protagonisten in ihrer Entwicklung begleitet und wesentliche Stationen der Handlung kommentiert. Besonders markant und mitreißend in der Passage Ni pitiè, ni merci mit ihrem einschneidenden Stoßrhythmus, in der er die Hinrichtung Leïlas und Nadirs fordert.
In jeder Perlenfischer-Aufführung fiebert das Publikum dem Duett von Tenor und Bariton Oui, c’est elle, c’est la déesse entgegen, das zum Hit zahlloser Wunschkonzertsendungen im Radio avanciert ist und in vielfältigen Aufnahmen vorliegt. Anthony Leon, ein Nadir der verblüffenden Phrasierungskünste und schmelzenden Legato-Kultur, und Insik Choi, ein Zurga, der blühende Farben mit vokaler Kraft zu verbinden weiß, steigern sich in einen packenden Dialog, nach dem der zu erwartende Szenenapplaus nicht ausbleibt. Eine Gesangsperle folgt der anderen. Nadirs Romanze Je crois entendre encore caché, die Leon mit berückender Eindringlichkeit gestaltet. Leïlas Kavatine mit inniger Hornuntermalung im zweiten Akt, der Blanch südländische Leidenschaft verleiht.
Für jeden der drei Akte gibt Bizet mit geometrischer Genauigkeit ein großartiges Duett mit wechselnden Konstellationen vor. Das stimmliche Rendezvous Ton coeur n’a pas compris le mien von Leïla mit Nadir nimmt geradezu gefangen. Psychologisch ist es der lange Weg zweier füreinander bestimmter Menschen. Kompositorisch noch einmal ein Reflex auf den Belcanto, in dem die beiden Stimmen lange vokale Wegstrecken brauchen, ehe sie gipfelartig zusammenfließen. Nachzuempfinden vor allem bei Bellini und Gaetano Donizetti. Leider erreicht Christoph Seidl in der Partie des Oberpriesters Nourabad nicht das Format der Hauptprotagonisten. Bizet hat ihm allerdings auch wenig Gelegenheit geschenkt, sich zu erweisen.
Das Publikum feiert alle Beteiligten mit anhaltendem frenetischem Beifall. Es drängt sich der Eindruck auf, dass eine Aufführung mit südländischer Exotik nicht vermisst wird. Es hat sich eben doch viel verändert zwischen dem Paris des Jahres 1863 und der rheinischen Metropole von heute, zumindest in der Art wie der Kunst der Oper begegnet wird.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Matthias Jung
11. Juni 2024 | Drucken
Kommentare