
Hoffmanns Erzählungen Jacques Offenbach Besuch am 14. April 2025 Premiere
Deutsche Oper am Rhein Oper Düsseldorf
Die Phantome der Regiemacher: Romantische Maschinenwelt in vier Regiesprachen
Für Regisseure und Inszenierungskollektive, die Hoffmanns Erzählungen auf die Bühne bringen wollen, stellt Jacques Offenbachs Opéra-fantastique eine außerordentliche Anforderung dar. Zugleich eine Einladung, den eminenten Freiraum zu nutzen, den der Fünfakter auf einen Text von Jules Barbier bietet. Die romantische Tragödie, die drei Erzählungen des Dichters E. T. A. Hoffmann aufgreift, ist eigentlich ein Torso, ein Werk, das in unterschiedlichen Fassungen, Verfälschungen und Bearbeitungen existiert. Der Komponist stirbt im Prozess der Überarbeitung der Instrumentation der Partitur. Bei der Uraufführung 1881 in der Pariser Opéra Comique, ein halbes Jahr nach dem Tod Offenbachs, wird eine Instrumentation von Ernest Giraud verwandt, der komplette Giulietta-Akt gestrichen.
Die auf vier Akte reduzierte Fassung wird bis 1905 gezeigt. Erst mit der Rekonstruktion des fehlenden Aufzuges unter Hans Gregor an der Komischen Oper Berlin wird die fünfaktige Version zum Standard. Sie liegt auch der Neuinszenierung an der Deutschen Oper am Rhein zugrunde, die mit einem innovativen Regiekonzept den Anspruch erhebt, die zwischen Realität und Surrealität changierende Geschichte des Dichters und Träumers durch Integration von Projektionen und Animationen, durch Spiel mit Puppen und Choreographie zu überhöhen. In Düsseldorf läuft das Projekt, eine Koproduktion mit der Oper Graz, unter dem Motto der „vier Regiesprachen“.
Geläufig ist Kennern einer der weltweit populärsten Opern überhaupt die Aufführungspraxis, den zweiten und den dritten Akt zu tauschen sowie die vier Frauenfiguren, vier Bösewichter und vier Diener jeweils nur von einer Person spielen und singen zu lassen. Die Düsseldorfer Verantwortlichen entscheiden sich, die weiblichen Hauptpartien von vier Sängerinnen gestalten zu lassen und die Inszenierung der Binnenakte sowie der Rahmenhandlung (erster und fünfter Akt) jeweils einer Regie führenden Person oder einem Kollektiv anzuvertrauen. Vergleichbares hat es auch schon an anderen Häusern gegeben, so beim Stuttgarter Ring des Nibelungen 2002/3, bei dem die vier Einzelstücke der Tetralogie mit vier unterschiedlichen Regisseuren besetzt wurden.
Tobias Ribitzki zeigt den Dichter zu Beginn in einer Art Schreibklausur. Vor tiefschwarzem Hintergrund wird eine Kerze entzündet. Eine Karaffe Wein wartet darauf, genossen zu werden. Papier, noch nicht beschrieben, wird sichtbar. Alsdann öffnet sich wie in einem Varieté der Vorhang, um der Muse den ersten Auftritt zu überlassen. Sie setzt auf den Rausch durch Wein, weil sie Hoffmann vor der verzehrenden Liebe (zu Stella) bewahren will, um ihn ausschließlich der Kunst und dieser seiner Bestimmung folgen zu lassen. Mich quält diese Liebe, er soll ihr entsagen, gehören soll er mir allein, lautet eine deutsche Übersetzung des Arioso der Muse. Danach verwandelt sie sich in Nicklausse. Sie streift ein Sacco über, was ihr androgyne Züge bis in den Schluss hinein verleiht. Die Schreibklausur mit ihren Utensilien taucht dann nicht unerwartet im fünften Akt wieder auf.
Mit der Öffnung des tiefroten Vorhangs hin zu Lutters Weinstube unweit der Oper, in der Stella die Donna Anna in Don Giovanni singt, nimmt die Trias der Erzählungen des Künstlers, der um Identität und Anerkennung ringt, die Liebe leidenschaftlich begehrt, aber nicht zu leben vermag, ihren Lauf. Stella (Daniela Matys) beobachtet das Treiben, das die vom Wein und vom Gesang befeuerten Studenten mit Hoffmann anstellen, stumm und offenkundig verständnislos.
Das mit dem zweiten, dem Olympia-Akt betraute britische Kollektiv 1927 um Paul Barrett und Esme Appleton, in Deutschland vor allem bekannt durch seine animierte Version von Barry Koskys Inszenierung der Zauberflöte, transformiert Hoffmanns Aufeinandertreffen mit der Erfindung des Physikers Spalanzani in die skurrile Welt von Kinematographie und Virtual Reality. Zugang zu dem neuerlichen Objekt seiner Begierde gewinnt Hoffmann durch eine VR-Brille. Durch sie nimmt er Olympia, genauer: den Kopf von ihr, in der Spitze einer witzigen Wandprojektion wahr, aus der sie ihr Les oiseaux dans la chamille, das Puppenlied, darbringt, um wenig später als vollständiger Mensch im Kabinett Spalanzanis aufzutauchen.
Ein verblüffender Effekt, wie auch der gesamte zweite Aufzug mit seinem komplexen Räderwerk und den eingestreuten komischen Anspielungen auf den fragwürdigen Charakter Hoffmanns als Highlight der gesamten Produktion gesehen werden kann. Noch gekrönt durch den Schlusseffekt. Coppélius zerstört den Automaten, worauf die Einzelteile der Olympia- Maschine prasselnd herniederstürzen und den Dichter aus seinen Träumen reißen.
Wahrlich acht lebensgroße Klappmaulpuppen hat Neville Tranter für den Antonia-Akt entwickelt, um das Glück wie den Fluch der Tochter des Rats Crespel zu verdeutlichen, die auf Geheiß ihres Vaters das Singen aufgeben soll, um nicht an der tödlichen Krankheit zugrunde zu gehen, die auch ihrer Mutter zum Verhängnis geworden ist. Bedient werden die Puppen – eine stellt eine fiktive Figur, den kleinen buckligen Min dar, der Antonia inbrünstig liebt – jeweils von einem Sänger, hier ausnahmslos Männer, und einer assistierenden Person aus der Statisterie.
All dies ist transparent, offen einzusehen, entbehrt aber weitgehend der Magie, die sich Tranter von den Puppen verspricht. Ohnehin schildert Offenbachs Musik die Tragödie, in die Antonia und der Dichter, beide übrigens nicht von Puppen überhöht, in glutvoller Musikdramatik, die alle Seelenzustände beschreibt. Insbesondere rührt der Anblick Antonias, die allein lange Minuten stumm mit dem Rücken zum Publikum verharrt, während eine Männerwelt über ihr Schicksal debattiert.
Last not least legt Nanine Linning den Giulietta-Akt als choreographische Projektion an. Es gibt ihn nicht, den Festsaal des Palasts zu Venedig, in dem Hoffmann sein Glück in den Armen der Kurtisane sucht. Diese hat freilich unter dem Einfluss des Kapitäns Dapertutto keine Skrupel, des Dichters Spiegelbild zu stehlen und ihn so in eine letztlich mörderische Enge zu treiben. Ersetzt wird der Palast durch eine in tiefes Blau getauchte Imagination des heutigen Venedigs, das vom Ansteigen des Meeresspiegels und dem Wechsel der Gezeiten geprägt wird. Der Chor in blauer Kostümierung agiert als Sinnbild dieser Gezeiten. Explosionsartig spült eine Videoanimation des Wassers die Geschichte der Giulietta auf die Bühne, um alsbald von ihr wieder zurückzuweichen.
Ein schwarzer Kasten mit einer Spiegelwand ist Schauplatz der Eskalation, in der Hoffmann sein Selbst verliert. Überdies ist er Sinnbild des Diamanten, den Dapertutto in seiner Bravourarie Scintille, diamant besingt, mit dessen Funkeln er Macht über Frauen gewinnt. Ob Linnings Idee, die Handlungen des Aktes in detailliert definierte Bewegungsabläufe zu transformieren, um die Charaktere der Figuren körperlich erfahrbar zu machen, vom Publikum ohne Vorab-Kenntnis dieser Intention verstanden wird, muss wohl offenbleiben. Richtig großartig in diesen Szenen wie auch zuvor etwa in Lutters Weinstube und herausragend in der Koordination von Aktion und Intonation ist der von Gerhard Michalski fabelhaft einstudierte Chor.
Sein Hoffmann-Regiekonzept, erläutert Ribitzki im Programmheft, sei darauf angelegt, den Opernabend ungeachtet der unterschiedlichen Ausdrucksmittel „zu einem großen Ganzen zusammenzuführen“. Hierfür führt er die Rahmung durch das Bühnen- und Kostümbild an. Ferner nennt er das Element des Vorhangs, des „Theaterzeichens schlechthin“, sowie die Figuren von Hoffmann und Muse/Nicklausse, die im gesamten Stück präsent seien, Hoffmann dabei in einem optisch unveränderten Kostüm. So ambitiös die Idee – in der Bühnenrealität stellt sich das intendierte Konglomerat nicht ein. Dafür sind die phantasievoll eingesetzten Mittel in den Kernakten individuell zu ausdrucksstark, zaubern sie die Imagination von drei Phantasiewelten hervor, die zudem auch vom Libretto mit seinen unterschiedlichen Sujets und Schauplätzen mehr als plastisch werden. In diesen exzentrischen Gegenwelten zum freudlosen Dasein Hoffmanns liegt ja der Reiz der Erzählungen W. T. A. Hoffmanns. Letztlich ist es die Regie, die einem Phantom nachjagt, vergleichbar Hoffmann auf seiner Suche nach erfüllter Erotik.
Musikalisch schwingt sich die Aufführung zu einem respektablen Niveau auf. Frédéric Chaslin, der die Düsseldorfer Symphoniker an Stelle des erkrankten Antonino Fogliani für die Premiere und die ersten Vorstellungen übernimmt, ist ein ausgewiesener Kenner der französischen Opern. Nur stellt sich Offenbachsidée musicale, teils Buffo-Oper mit eingestreuten Couplets, teils Musikdrama, nur phasenweise ein. Es fehlt an Eleganz und an Nuancen im Dialog mit den Sängerdarstellern.
Diese sind bei Ausnahme der vorzüglichen Darija Auguštan, die in der Rolle der Antonia ihr Hausdebüt gibt, aus dem Hausensemble besetzt. Herausragen Elena Sancho Pereg als Olympia und der famose Bogdan Taloș als Lindorf/Coppélius/Dapertutto/Dr. Miracle. Sarah Ferede gibt Giulietta in einem Glitzerkostüm mit vokaler Intensität, ohne indes die Aura der verführerischen Kurtisane zu erreichen. Maria Kataeva ist als Muse/Nicklausse eine robuste Begleiterin Hoffmanns. Ovidiu Purcel steht die Partie des Dichters mit ihren enormen Anforderungen kraftvoll durch. Das lyrische Gefällige, den Melos des romantischen Traumwandlers bleibt sein Tenor indes schuldig. In der Höhe erreicht die Stimme bezwingende Ausdruckskraft, in der Mittellage ist sie häufig rau und unbestimmt.
In weiteren Partien arrondieren Andrés Sulbarán als Andrès/Cochenille/Pitichinaccio/Franz, Thorsten Grümbel als Luther/Crespel, Florian Simson als Nathanaël/Spalanzani und Jake Muffett in der Partie des Schlemihl den guten Gesamteindruck. Mit dem Bass Emanuel Fluck als Hermann ist der Chor auch solistisch präsent.
Unter den anhaltenden tosenden Beifall des Publikums, der alle Mitwirkenden umschließt, mischt sich ein kräftiger Buhruf, der offenkundig den Regieteams gilt. Erfreulich ist der große Applaus für den Chor. Seine Leistung wird auf alle Fälle in Erinnerung bleiben.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Barbara Aumüller
16. April 2025 | Drucken
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