Drama mit Kipppunkt: Regie verwandelt Sozialkritik des Industriezeitalters in eine Utopie

Xl_8941_wozzeck_cr_matthias_jung10 © Copyright Foto: Matthias Jung

Wozzeck Alban Berg Besuch am 25. Mai 2024 Premiere

Aalto Theater Essen

Drama mit Kipppunkt: Regie verwandelt Sozialkritik des Industriezeitalters in eine Utopie

Im Juni 2004 bringt der Film- und Theaterregisseur Johannes Schaaf die Oper Wozzeck von Alban Berg am Essener Aalto Theater zur Aufführung. Dank ihrer Dimensionen nehmen die Bühnenbilder Hans-Dieter Schaals beängstigend gefangen, während für das Geschehen nach dem Dramenfragment von Georg Büchner nur ein schmaler Ausschnitt vorgesehen ist. Am Pult der damalige Generalmusikdirektor Stefan Soltés. Zwanzig Jahre später sind es in Essen erneut Bühnenbilder, die den Blick auf das Drama in der Garnisonsstadt um 1820 bestimmen. Bilder aus einer Zirkuswelt, die die dramaturgischen Koordinaten massiv verschieben, fort vom realistischen Kern, hin zu einer Utopie, die mit einem Gedankenexperiment kokettiert, aber dem Stück nicht gut bekommt.

Auf der Gasse vor dem Haus der Marie zieht der Knabe ein Leiterwägelchen hinter sich her. Von seinen Spielkameraden hat er vom Tod der Marie, seiner Mutter, erfahren. Herausgeschrieen haben sie die Nachricht in einen gewellten Bühnenraum, in dem die Menschen kaum Halt zu finden vermögen. Es ist der grelle Ton der Lust an allem Schaurigen, der die Schrecken des 20. Jahrhunderts vorweg zu nehmen scheint. Mit einem Bild, das Assoziationen an das Kino eines David Lynch oder das Krimigenre im Fernsehen provoziert, endet Franz Grundhebers Wozzeck-Inszenierung am Theater Trier. Es ist 2001 die Sicht des Wozzeck-Interpreten seit den frühen 1980er Jahren auf den großen Bühnen der Welt und ein Geschenk des Regiedebütanten an seine Heimatstadt.

Wozzeck hat die Lebensgefährtin erstochen und im See den Tod gesucht. „Der Mensch ist ein Abgrund“, hat die von extremen Ängsten gepeinigte Kreatur zuvor erkannt, „es schwindelt einem, wenn man hinunterschaut.“ Der Junge, für endlose Sekunden die personifizierte Einsamkeit in einem Ambiente absoluter Haltlosigkeit, weiß noch nicht, wie tief er bereits in diesen Abgrund geblickt hat.

In der Essener Neuinszenierung entlässt Regisseur Martin G. Berger das Publikum ebenfalls mit einem Schlussbild, das haften bleibt. Nur stellt es den Kern von Büchners Drama auf den Kopf. Auf einem hellen Sofa vom Typ Ikea-Möbel sitzen Wozzeck und Marie zusammen mit ihrem Sohn vor dem Fernseher. Es ist eine Reprise der Anfangssituation, freilich nur formal. Dieser Wozzeck ist ein neuer Mensch, der aus der schmerzhaften Erfahrung seiner Unterdrückung durch Militär und Medizin gelernt hat. Dem jetzt die Kraft und die Fähigkeit zu eigen ist, sich aufzulehnen. Widerstand gegen die chauvinistischen Charaktermasken einer repressiven Gesellschaft zu leisten.

1925 erlebt Berlin die Uraufführung der 15 Bilder umfassenden Oper unter Erich Kleiber. Wie wohl keine zuvor seziert sie die sozialen Verhältnisse an der Schwelle des Industriezeitalters. Seitdem polarisiert das zwischen semiromantischer und freier Tonalität navigierende und mit absoluten Formen der Instrumentalmusik spielende expressive Opus das Publikum. Rezeptionsgeschichtlich durchläuft Wozzeck alle Stufen von extremer Ablehnung bis hin zu hymnischer Verehrung. Unter dem NS-Regime als „entartete Musik“ diskriminiert, avanciert die Oper später weltweit zum anerkannten Repertoirestück.

Jede Inszenierung muss eine Antwort auf die Frage finden, wer denn nun dieser Franz Wozzeck sei, der in heutiger Terminologie dem Prekariat angehört, aus dem er nicht aussteigen kann. Der gewiss ungebildet, aber, wie Berger im Programmheft notiert, ausgestattet ist „mit einem besonderen Sinn für die Abgründe der Menschen, die ihn umgeben, und einer hellsichtigen Perspektive auf deren Ängste und die Verwerfungen der modernen Welt“. Wozzeck mithin der Prototyp derer, die sich im mittleren Westen der USA, in den zurückbleibenden Ländern Südeuropas, in den vom Strukturwandel getriebenen Landstrichen im Osten Deutschlands ausgegrenzt wähnen. Die mit der Dynamik der Globalisierung und der IT-Moderne nicht mehr mitkommen können oder wollen und ihre Ohnmacht in Wut verwandeln, manchmal in Gewalt.

Berger, Operndirektor im Mecklenburger Staatstheater, im Sprech- wie im Musiktheater zuhause, geht freilich nicht den naheliegenden Weg einer zeitlosen Sozialkritik. Sein Essener Dreh- und Angelpunkt resultiert aus der eher beiläufigen Begegnung Wozzecks mit dem Narren in der vierten Szene, die er zur Umdeutung von Büchners Stoff und Bergs Tongemälde nutzt. Die Figur des Narren, einfühlsam interpretiert von der Mezzosopranistin Bettina Ranch, wird ergänzt um die Schauspielerin Katharina Brehl und den Tänzer Jonas Onny. Die Gaukler haben Wozzeck vor die Alternative gestellt, entweder Narr oder Mörder zu werden. Bergers fast schon romantische Utopie eröffnet ihm die Option, sich gegen das Töten entscheiden zu können. Was er tut und durch Übernahme des Narrenkostüms äußerlich bestätigt. Bergers Kipppunkt hat natürlich Folgen. Für seine Inszenierung, die sich vom Drama zum Märchen wandelt. Für das Publikum, das von dem andauernden Gehampel von Schauspielerin und Tänzer genervt wird.

In dieses Szenario passt das Bühnenpanorama der Sarah-Katharina Karl für die verschiedenen Schauplätze der Handlung. Ein Einheitsraum mit bunten Lichtern an beiden Seiten, die die Atmosphäre eines Revuetheaters hervorrufen. Mit übergroßen symbolischen Ikonen. So dem Zahnrad für Industriearbeit, das aus Moderne Zeiten von Charlie Chaplin stammen könnte. So von oben herab baumelnde Zuckerstangen für die Gier. So ein LED-Screen mit einer zur Fratze gedehnten Frauenphysiognomie und der phallischen Überfigur des Tambourmajors als Insignien der Oberflächenreize in der gegenwärtigen Gesellschaft (Video Tabea Rothfuchs). Die farbenfrohen Kostüme von Esther Bialas funktionieren hervorragend als optische Verstärker der bunten Zirkuswelt.

Berg setzt sich mit der Wozzeck-Partitur fast ein Jahrzehnt lang auseinander. Seine extrem komplexe, dabei durchaus harmonische Musik von polyphoner Tonalität bis hin zu impressionistischen Effekten und trockener Atonalität, der die Essener Dramaturgie drei von Ranch interpretierte „Frühe Lieder“ des Komponisten voranstellt, entfaltet von Bild zu Bild eine staunen machende Sogwirkung. Wie von den Essener Philharmonikern mit dem sorgfältig führenden Roland Kluttig am Pult getragen, meistert das engagierte Sängerensemble die Tücken wie die verführerischen Gipfel der Partitur.

Am stärksten beeindruckt Deirdre Angenent in der Rolle der Marie, sowohl Opfer der Testosteron-Gesellschaft wie in Ansätzen selbstbewusste Frau. In der Titelpartie versteht es Heiko Trinsinger, die weichen wie die harten Facetten des überforderten jungen Soldaten zu zeichnen. Sebastian Pilgrim ist ein viriler Doktor mit bestechender Intonation und Vehemenz, der über eine Phalanx von hinter Glas aufbewahrten Embryos gebietet. Als Hauptmann brilliert Torsten Hofmann mit rollenaffiner stimmlicher Schärfe und pointiertem Spiel. Mit roten Haaren, akzentuiert noch durch einen roten Trainingsanzug, gibt Rodrigo Porras Garulo den Tambourmajor mit der Unverblümtheit des sexistischen Zirkusdirektors. Als Andres hat Aljoscha Lennert starke Momente. Der von Klaas-Jan de Groot trefflich einstudierte Chor entwickelt Berg-Format. Sein Wirtshaus-Lied Der Jäger aus Kurpfalz im neunten Bild, in trunkener Stimmung gegen den Strich des Originals gesungen, geht unter die Haut.

Der auf alle Mitwirkenden einprasselnde Beifall verdeckt ein bisschen die Tatsache, dass das Haus nur zu etwa zwei Dritteln besetzt ist. Er gilt insbesondere den Sängerdarstellern sowie Kluttig und dem Orchester, abgeschwächter dem Regieteam. Doch sei hier vor vorschnellen Zuordnungen gewarnt. Diese Inszenierung wie Wozzeck überhaupt entzieht sich dem raschen Urteil.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: Matthias Jung

 

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