Entlarvung einer Heldensaga: Bombastischer Opernsound täuscht nicht über das Fehlen einer eigenen Musiksprache hinweg

Xl_lamontagnanoire_khp_021 © Copyright Fotos: Björn Hickmann

La Montagne Noire Augusta Holmès Besuch am 13.1. 2024 Premiere

Theater Dortmund

Entlarvung einer Heldensaga: Bombastischer Opernsound täuscht nicht über das Fehlen einer eigenen Musiksprache hinweg

Eine deutsche Erstaufführung einer Oper aus der Belle Époque, eines 1895 am Théâtre National de l'Opéra, heute Palais Garnier, uraufgeführten Werks, ist eine Rarität. Der aktuelle Fall ist La Montagne Noire der heute nur Spezialisten bekannten Komponistin Augusta Holmès, die irische und französische Wurzeln aufweist. Vor 125 Jahren ist der Vierakter nach Louise Bertins La Esmeralda das zweite Werk, das die Pariser Oper von einer Komponistin aufführt. Nach 13 Vorstellungen wird das Stück als Misserfolg verbucht und aus dem Spielplan genommen.

Das Theater Dortmund engagiert sich bald 130 Jahre später mit der Wiedererweckung der Oper für ein Werk, das ohne den in den letzten Jahren in Gang gekommenen Genderprozess auf und hinter der Opernbühne vermutlich weiter im Archiv geschlummert hätte. Die Gründe für eine Neubegegnung mit dem Lyrischen Drama liegen überwiegend in Persönlichkeit und Charakter der Künstlerin, woraus Regie und Dramaturgie des Dortmunder Hauses auch kein Geheimnis machen. Ob sich zwingende werkaffine finden werden, mag die Beachtung der vierten und bedeutendsten Oper von Holmès in den kommenden Spielzeiten der Musiktheater ergeben.

Die Handlung der Oper, zu der die Komponistin in Anknüpfung an das serbische Volkslied Der Tod des Marko Kraljević selbst das Libretto schreibt, spielt 1657 in einem Dorf im Hochgebirge Montenegros, das in den Kampf der Montenegriner gegen das Osmanische Reich hineingezogen wird. Es ist auch ein vom Hass getriebener Konflikt von orthodoxen Christen und Muslimen. Mirko und Aslar, zwei montenegrinische Krieger, verbünden sich in Blutsbrüderschaft und schwören sich ewige Treue. Die Freudenfeier anlässlich des Sieges der Montenegriner wird durch die Türkin Yamina gestört, die vor den Truppen des Feindes auf der Flucht ist. Da sie als Spionin verdächtigt wird, verlangt das Volk ihren Tod.

Überwältigt von ihrer Schönheit, die sich in einem orientalischen Tanz offenbart, bittet Mirko, der mit der anmutigen Héléna verlobt ist, um Gnade für Yamina. Seine Mutter Dara ist schließlich bereit, sie als Sklavin am Leben zu lassen. Das Liebespaar ergreift die Flucht. Aslar, der den Verrat seines Bruders an der Heimat nicht hinnehmen will, stellt Mirko im Gebirge. Es kommt zu Kämpfen, an deren Ende beide sterben. Yamina überlebt. Der Nachwelt wird das Narrativ von der wieder hergestellten Ehre Mirkos überliefert. Es macht das Volk glauben, die beiden seien im Kampf für das Vaterland gefallen.

Die junge Regisseurin Emily Hehl, die nach einem missglückten Macbeth in Essen einen neuen Inszenierungsanlauf unternimmt, versteht das Epos von der Entzauberung der falschen Legende als ein Stück über Geschichtsschreibung, womit sie auch den Nerv unserer Zeit trifft. Wer trägt, fragt sie, die Verantwortung für die Vermittlung von Geschichten und erinnert daran, dass es immer andere sind, die unsere Narrative nach uns weitererzählen. Folgerichtig versetzt sie das Geschehen in eine fiktive Zeit, in der Stilelemente unterschiedlicher Epochen ineinanderfließen.

Wenn Holmès ihren Text und ihr Werk – übrigens zehn Jahre vor der Annahme durch die Pariser Oper – auch als Kritik an patriarchalischen gesellschaftlichen Zuständen und Rollenzuschreibungen verfasst hat, so findet diese Intention in der Inszenierung Hehls eine bruchlose Fortsetzung. Die zentrale Figur ist Yamina, eine femme fatale wie die Komponistin mit ihrer wilden Biographie. Sie träumt vonliberté für Menschen und Nationen, von Ländern unter dem Regiment von Frauen und erweitert den Horizont der Dörfler, indem sie von Reisen erzählt, die sie unternommen hat, tatsächlich oder fiktiv. Und aus der Spirale des Hasses aussteigt. In einer Szene, nach Yaminas Befreiungsarie, verlacht der Frauenchor die Männer, legt seine Folklorekleidung ab und präsentiert sich in purem Weiß. Die Beschwörung einer Zukunft gleicher Rechte?

Der Mix an Stilen findet sich auch in der Ausstattung. Die Bühne von Frank Philipp Schlößmann beschränkt sich im ersten Akt auf einen nüchternen in Grau gehalten Raum, in dessen Wände Konturen von Kirchen mit Zwiebeltürmen wie eingraviert zu sehen sind. Von Szene zu Szene wird das Panorama bunter. Streckenweise auch kitschig, wenn Schnee auf die Liebenden hernieder rieselt, die sich auf dem legendären schwarzen Berg umarmen. Und krass überzeichnet, wenn im Finale die Wiedergabe eines Wandtableaus mit einem schlafenden Kind den Frieden der Brüder suggeriert, den die beiden im Tod gefunden haben wollen

Die Kostüme von Emma Gaudiano bilden mit Folkloremustern auf den Hemdblusen der Dörfler ein Kolorit ab, das es in der Inszenierung nicht gibt. Ganze Stöße von Teppichen, die mal ausgebreitet, dann wieder eingesammelt werden, erzeugen die Vorstellung von Kriegsbeute. Ziemlich vordergründig, eher banal. Ob die Soldaten respektive Feldherren in weißen Frauenkleidern zu Lederstiefeln vonnöten sind, auch wenn sie den Gewohnheiten der damaligen Zeit entsprechen mögen, sei dahingestellt. Auch die von Hehl zusätzlich eingeführte Figur der Gusla-Spielerin (Bojana Peković), zu deren Klängen von dem einsaitigen traditionellen Instrument das serbische Volkslied zitiert wird, erzeugt keine patriotische Stimmigkeit, eher überflüssige Frakturen.

Hehls insgesamt zwischen Wollen und Können schwankende Inszenierung ist nicht frei von ironischen Anspielungen und Irritationen. Mirkos treuer Begleiter wird von einem Statisten mit der Attrappe eines Esels dargestellt, womit die alttestamentarisch abgeleitete Anmutung des Antihelden zum Begriff werden soll. Ein im Hintergrund im dritten Akt kurz sichtbares Auto im Stil eines Sowjetfabrikats soll offenkundig als Metapher für die Freiheitssehnsucht Yaminas dienen. Schlüssig ist dies nicht, weil Musik und Libretto diesen Aspekt ohnehin ausgiebig erzählen.

Holmès liebt, wie auch ihre zur Pariser Weltausstellung 1889 komponierte monumentale Kantate belegt, das Bombastische. Sie erzählt die im Kern lyrische Verführungsgeschichte im musikalischen Overdrive. Vor allem im ersten Teil mit der Siegesfeier und dem von Blech aus dem Graben untermalten Blutsschwur agieren Orchester, Solisten und Chor mit einer extremen Lautstärke, die den Beteiligten totale Präsenz und physische Hingabe abverlangt.

La Montage Noire bündelt die besondere Fähigkeit der Komponistin, Stilrichtungen ihrer Epoche aufzugreifen. Es sind Einflüsse zu erkennen von der späten Grand Opéra in der Nachfolge Giacomo Meyerbeers über Richard Wagner, den sie seit der Rheingold-Uraufführung schätzt, an der sie teilnimmt, und in Tribschen persönlich kennenlernt. Hier liegen auch die Ursprünge ihres Rufes als Vertreterin des Wagnérisme. In der Partitur werden Leitmotive wie das einleitende Schwurmotiv bemüht, wie sie Giuseppe Verdi in seinen späten Werken bevorzugt und Giacomo Puccini weiterentwickelt, dessen Tosca sie noch erlebt oder gekannt haben dürfte, nicht aber seinen weiteren Aufstieg nach ihrem Tod 1903.

Entscheidend indes dürfte, das Fehlen einer eigenen musikalische Sprache sein. Die Mixtur unterschiedlicher beim Publikum beliebter Stilrichtungen in Verbindung mit langen, häufig spannungslosen Sequenzen muss man nicht als eklektisch geringschätzen. Aber es nimmt dem Drama jenen besonderen Reiz, der Operndirektoren motivieren könnte, das im Übrigen auch übermäßig lange Stück auf die Bühnen heutiger Musiktheater zu holen. Es muss nicht zwingend eine Fehlentscheidung der Direktion des Palais Garnier gewesen sein, das beim Publikum durchaus geschätzte Werk frühzeitig abzusetzen und damit sein Vergessen anzubahnen.

Von einer eigenen Tonalität sprechen hingegen die Duette in unterschiedlichen Konstellationen, die sich wie Edelsteine an einer Perlenkette durch das musikalische Geschehen ziehen. In ihnen erreicht Holmès eine sinnliche, auch erotisch gefärbte Tiefe, die den Anspruch einer Frau erlebbar macht, die Oper nicht allein den Komponisten einer patriarchalischen Gesellschaftsform zu überlassen, sondern einen Anteil daran Künstlerinnen einzuräumen, weil sie längst selbstbewusst sind wie Yamina.

Die von Motonori Kobayashi einfühlsam geführten Dortmunder Philharmoniker spielen sich mit Engagement, gar Hingabe in den Klangkosmos der Holmès hinein. Sie finden die Balance zwischen dem großen Opernkino und den mäßig dahinfließenden Passagen, die die Aufgabe haben, von einer dramatischen Zuspitzung zur nächsten zu führen. Vielleicht ist es keine kluge Entscheidung Koboyashis, erstmalig das von Holmès präferierte lange Finale zuzulassen, das 1895 den Strichen des Pariser Theatermanagements zum Opfer fällt.

Das Sängerensemble besticht bei wenigen Abstrichen durch Intensität, Vehemenz und Aufbietung aller physischen Kräfte. An der Spitze die drei Protagonistinnen mit der hinreißenden Mezzosopranistin Aude Extrémo in der Partie der Yamina, der geschmeidigen Sopranistin Anna Sohn als ihre Rivalin Héléna und der Rigidität verbreitenden Mezzosopranistin Alisa Kolosova als Dara. In den Partien der Männer imponieren Sergey Radchenko als Mirko mit einer Tenorgewalt, die keine Grenzen zu kennen scheint, sowie der Bariton Mandla Mndebele dem eine packende Gestaltung des Aslar gelingt. Ihn eint freilich das Manko einer phasenweise unruhigen Intonation und eines unnatürlichen Vibrato mit dem Bass Denis Velev in der Rolle des Père Sava, des höchsten Dorfgeistlichen. Schlicht phänomenal ist die Performance von Opernchor und Projekt-Extrachor in der Einstudierung von Fabio Mancini.

Nach gut drei Stunden Spieldauer schlägt über allen Mitwirkenden der Jubel des Publikums im nicht ausverkauften Haus hernieder, für den es sich gehörig Zeit nimmt. Mit dieser Intensität könnte auch ein Stück weit die Unsicherheit zugedeckt sein, die die Zukunft dieser Oper begleiten dürfte. Wenn es eine solche überhaupt gibt.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Fotos: Björn Hickmann

 

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