Moses und Aron Arnold Schönberg Besuch am 17. Dezember 2023 Premiere am 10. Dezember 2023
Gegen den Strich: Formidabler Chor krönt eine Inszenierung der Dekonstruktion
Der Bonner Opernchor, verstärkt um das Vocalconsort Berlin, insgesamt ein Aufgebot von rund 80 Sängerinnen und Sänger, die die komplexen Anforderungen der Partitur mit großer Klangdifferenz meistern. Das Beethoven Orchester Bonn, das die auf einer einzigen Zwölftonreihe aufgebaute expressive Klanglandschaft zum Leuchten bringt. Zwei Akteure, die bis an die Grenzen dessen gehen, was darstellbar ist. Eine Inszenierung, die eine Reise durch die Kunst- und Mediengeschichte vom Barock bis in unsere Moderne wagt. Die Neuproduktion von Arnold Schönbergs Moses und Aron am Theater der Bundesstadt weist Elemente auf, die sie aus dem Repertoire des Gewohnten und des Erwartbaren weit hinausheben. Stadttheater von seiner besten Seite.
Zugeordnet ist die Produktion der Reihe Fokus’33 des Theaters Bonn. Seit der Spielzeit 2013/14 müht sich die Oper der Bundesstadt mit diesem ambitionierten Projekt um eine Neuansicht von Werken des Musiktheaters aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die unter der Repression des NS-Regimes aus den Spielplänen verschwinden und nach dessen Ende in diesen auch nicht oder marginal wieder auftauchen. Und um eine Neubesinnung auf Künstler, die von den deutschen Faschisten aus Musikbetrieb und Land ins Exil vertrieben wurden. Neu ins öffentliche Bewusstsein gehoben wurden so Werke von Alberto Franchetti, Clemens von Franckenstein,Rolf Liebermann,Giacomo Meyerbeer und weiteren wie Kurt Weill.
Dass diese Einordnung zwar nachvollziehbar, aber keineswegs zwingend ist, beweist die Aufführung der unvollendet gebliebenen Oper selbst. In den Jahrzehnten seit der konzertanten Uraufführung 1954 in Hamburg und der szenischen drei Jahre später in Zürich ist Moses und Aron immer wieder realisiert worden, in London, Düsseldorf, Wien, Paris, Berlin und Dresden. Einer größeren Aufführungsdichte steht nicht die als sperrig empfundene Eigenart des Werks entgegen, sondern der ungewöhnliche Aufwand an musikalischen Könnern, den eine Aufführung verlangt.
Der Prozess der Entstehung der Oper ist zugleich eine Geschichte des Zweifels, Von Zweifeln Schönbergs an seinem Werk wie seinem Glauben. Er verfasst den Text zu dem Dreiakter sowie die Musik des ersten und zweiten Akts in den Jahren 1930 bis 1932, also vor seiner Emigration 1933 in die USA. Vorausgegangen ist ein den Komponisten tief treffendes Erlebnis 1921 im österreichischen Mattsee, das als Auslöser für Moses und Aron gilt. Schönberg, der als junger Mann (1898) vom Judentum zum Protestantismus übergetreten ist, wird von der Gemeinde, die jüdische Feriengäste ablehnt, zur Vorlage seines Taufscheins aufgefordert. Schönberg ist erschüttert und besinnt sich neuerlich seiner Zugehörigkeit zum Judentum, zu dem er in der Emigration wieder zurückkehrt.
Schon ab 1923 beschäftigt er sich mit dem 2. Buch Mose. Eine kleine Kantate unter dem Titel Moses am brennenden Dornbusch weitet er ab 1928 zur Oper aus, ohne sein Libretto für den dritten Aufzug in der Emigration zu vertonen. Über die Motive hierfür wird bis heute spekuliert. Die 1937 entstandenen musikalischen Skizzen zum dritten Akt bleiben wie das ganze Werk ein Torso. Eigentlich, meinen Kenner seines Werks, sei mit dem Schluss des zweiten Akts, dem Zusammenbruch des Moses, alles gesagt.
Im Kern thematisiert die Handlung die leidenschaftliche Kontroverse eines Fundamentalisten (Moses) und eines Populisten (Aron) um die angemessene Darstellbarkeit des neuen Gottes, der an die Stelle des polytheistischen Glaubens tritt. Hier die Imagination des „einzigen, ewigen, allgegenwärtigen, unsichtbaren und unvorstellbaren Gottes“, gegen die das Volk, das eine sinnlich erfahrbare überirdische Instanz verlangt, Sturm läuft. Dort die Beschwörung eines antiabstrakten Gottesbegriffs, der sich über das Bilderverbot des Alten Testaments hinwegsetzt. Hier das Wort als exklusive Stimme von Vernunft und Aufklärung. Dort das Bild als Verstärker von Ablenkung und Verführung. Einer von zahlreichen Antagonismen des Stoffes, deren Sprengkraft bis in unsere Gegenwart reicht.
Nicht zuletzt handelt es sich um ein weiteres Künstlerdrama in der Folge von Hector Berlioz und Richard Wagner auf der Opernbühne, das die Rolle Schönbergs als Messias der Neuen Musik immer mit reflektiert, sei es auch nur latent. Am Ende bleibt nichts als ernüchterndes Scheitern. Das der biblischen Protagonisten wie das des Künstlers Schönberg. Moses‘ verzweifelte Deklamation am Ende O Wort, du Wort, das mir fehlt entspricht werkgeschichtlich der Verzicht des Komponisten auf die Vertonung des Schlussaktes.
An der Deutschen Oper am Rhein hat der aus dem schweizerischen Locarno stammende Regisseur Lorenzo Fioroni in der letzten Spielzeit für Jules Massenets Hérodiade einen Inszenierungsstil kreiert, der die Dekonstruktion werkgetreuer Wiedergaben alttestamentarischer und anderer biblischer Stoffe durch ein Kaleidoskop unterschiedlicher Moden und Theaterstile verfolgt. Der zudem einen choreographischen Weg findet, die im Orientalismus auf der Bühne beliebten Massenszenen beherrschbar zu halten.
Nach dieser Blaupause hat Fioroni für die Bonner Produktion zusammen mit seinem Ausstattungsteam Paul Zöller (Bühne), Sabine Blickenstorfer (Kostüme) und Christian Weissenberger (Video) ein Theaterspektakel ersonnen, das verfängt, ohne dem Blendwerk der Vorlage zu verfallen. Ein Ausweg aus dem Dilemma, dem Axiom des Bilderverbots gleichwohl bildlich nahezukommen.
Fioroni startet mit der Adaption einer barocken Hoftheaterbühne im Miniaturformat unter blauem Himmel, die in das ovale Objektiv, vergleichbar einem Fischmaul, einer modernen Kamera eingepasst ist. Danach agieren die Brüder unter kopfgroßen Masken in einem Puppentheater im Zentrum der Bühne, die sie unschwer als orthodoxe Juden erkennen lassen. Naheliegend kann dies auch als Karikatur verstanden werden. Oder als Persiflage. Moses ist ferner als Schafhüter zu sehen. Ein treffendes Bild, muss er doch den Auftrag Gottes erfüllen, sein Volk aus der Sklaverei der Pharaonen zu befreien, und es dabei letztlich wie eine Herde zusammenhalten.
Flimmernde Bilder auf Gazevorhängen, auch als Zitate aus der Stummfilm-Ära, untermalen die erstaunlichen Taten, mit denen Aron die rebellierenden Massen zu beruhigen sucht. Die Videosequenz von der Schlange, in die angeblich der Stab des Moses verwandelt worden ist, hat die Wucht, noch länger vor dem geistigen Auge präsent zu bleiben.
Die ungeduldig auf die Rückkehr Moses‘ vom Berg Sinai wartenden Israeliten werden ziemlich realistisch als eine Festversammlung des gehobenen Bürgertums gezeigt. Man mag dabei an die Wiener Gesellschaft zur Zeit der Geburt Schönbergs denken. Nur, festliche Stimmung ist hier fehl am Platz. Die Menschen bewegen sich aktionistisch, in fieberhafter Hektik, übertrieben und in Panik. Deutlicher kann die Negation der originären Bilderwelt kaum ausfallen.
Den Gipfel der visuellen Konstruktion gegen den Strich inszeniert Fioroni ausgerechnet in der Szene der Aufrichtung des Goldenen Kalbs, mit dem die Juden die vermeintliche Rückeroberung ihrer sinnlichen und sexuellen Befriedigung feiern, musikalisch von orgiastischen Posaunenklängen begleitet. Anstatt die Szenen der Wollust, gipfelnd im Opferangebot der vier nackten Jungfrauen, zu zeigen, wird das Publikum über quälend lange Minuten mit der in einen engen weißen Kasten eingesperrten Figur des Moses konfrontiert.
Dietrich Henschel, ein gefragter Bariton auf deutschen Bühnen, ist dieser wunderliche, vom Wahn getriebene Mann mit einer physisch extrem fordernden, bis ins Athletische reichenden Leistung an der Grenze zur Selbstverleugnung. Er traktiert herumliegende Holzteile, Papierbahnen und allerlei Arten von Müll. Er beschmiert sich mit Farbe, bringt sich Verletzungen bei und unternimmt Anstrengungen, sich zu strangulieren. Sein am Ende nackter Körper mutiert zur Fläche von Symbolen und Botschaften, zum Kunstwerk eigener Art, während er an der Wand Ziffern schafft, die die von Gott empfangenen Gebote illustrieren sollen. Und die Chiffren von Alpha und Omega, Pfeiler der musikalischen Grundidee Schönbergs.
Sollte jemals der Begriff der Choroper mit voller Berechtigung verwendet werden, so dürfte dies auf Moses und Aron zutreffen. Corona-bedingt sollen sich die Proben in mehreren Etappen über drei Jahre gezogen haben. Das Ergebnis überzeugt total. Verlangt wird das Singen in unterschiedlichen Stilen. Die Palette reicht vom Choral über den Sprechgesang bis zum Flüstern. Wo ist Moses? Diese geflüsterte Chorpassage geht schlicht unter die Haut. Der tosende Beifall, der am Ende über Chorleiter Marco Medved und das ganze Ensemble hereinbricht, ist die verdiente Auszeichnung für eine Ausnahmeleistung. Ähnlicher Jubel gilt dem Orchester, das unter der vehementen wie akribischen Leitung von Dirk Kaftan die geradezu atmende Komplexität der Partitur in hörbare akustische Erlebnisse verwandelt, detaillierte Schärfe und sinnlichen Farbenreichtum verbindet.
Schönberg hat die Partie des Moses, diese intellektuelle Figur ohne Rednergabe, weitgehend auf die Sprache reduziert. Daraus ist ein Sprechgesang im Übergang zur Deklamation erwachsen, den Henschel überzeugend beherrscht. Die vokale Präsenz fällt der Rolle des Aron zu. Der Tenor Martin Koch geht in ihr mit bestechenden Anklängen an das Belcanto-Fach und waghalsigen Parforcejagden durch alle Register voll und ganz auf. Verdienter Beifall für ihn wie auch die Mitwirkenden in den weiteren Rollen sowie emphatisch für Fioroni und sein Team.
Die Musikwelt begeht im kommenden Jahr den 150. Todestag Schönbergs. Die Bonner Opernproduktion ist schon jetzt in ein Begleitprogramm eingebettet, darunter eine lohnende Ausstellung im Theaterfoyer. Fokus `33 hat einmal mehr seine Bühne gefunden.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Sebastian Hoppe
19. Dezember 2023 | Drucken
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