Hamburger Sieben: Ein einmaliges Museum spiegelt 200 Jahre Musikgeschichte der Hansestadt
Göttingen hat seine Sieben, eine Gruppe streitbarer Professoren gegen die Obrigkeit. Hamburg steht dem nicht nach. Sieben Komponisten beherbergt ein Museum in einem denkmalgeschützten Kontourhaus in der Neustadt. Alle sieben sind der Hansestadt biographisch und künstlerisch besonders verbunden. Porträt einer Institution, die auch konzeptionell einmalig ist.
Hamburg verfügt über annähernd 40 Museen. Die Palette reicht von der Kunsthalle über die Deichtorhallen bis zum Museum für Kunst und Gewerbe und zur Ballinstadt, dem Auswandermuseum. Eine Preziose in dieser Palette, das seit rund einem Jahrzehnt bestehende KomponistenQuartier, ist selbst vielen kulturaffinen Hamburgern nicht bekannt. Dabei ist sie wie in Märchenerzählungen mit den Schätzen zu vergleichen, die man einfach nur heben muss.
Die Peterstraße in der Neustadt. In fußläufiger Entfernung vom Hamburger Michel. Nach dem Krieg neu errichtete historisierende Bürgerhäuser. Einige Gebäude sind im historischen Stil erhalten. Das Ambiente erlaubt eine Vorstellung vom Stadtbild der Hansestadt im 19. Jahrhundert. Kopfsteinpflaster läuft auf ein Eckgebäude zu. Das denkmalgeschützte Kontorhaus stammt aus dem Jahr 1751. Dessen großzügige Fenster im Parterre geben den Blick in merkwürdig ineinander geschachtelte Räume frei, die sich über zwei Geschosse ziehen.
Hier, in diesem Viertel mit seiner eigenartigen Atmosphäre, in diesem Haus der architektonischen Überraschungen, befindet sich das KomponistenQuartier. Es ist die museale Heimat von sechs Komponisten und einer Komponistin, die Hamburg biographisch und künstlerisch besonders verbunden sind, die die Musikgeschichte der Hansestadt über eine Spanne von mehr als 200 Jahre spiegeln.
Das KQ, wie Förderer und Eingeweihte diesen kulturellen Lehr- und Lernort der Stadt mit liebevollem Stolz zu bezeichnen pflegen, ist – im Vokabular der Gegenwart – ein Vorzeigeprojekt der Zivilgesellschaft. „Wie sein Standort“, sagt Friederike von Cossel, die Geschäftsführerin des Museums, „ist das KQ eine besondere Adresse. Hier lässt sich das für Hamburg typische bürgerschaftliche Engagement antreffen und die Geschichte der Stadt ein wenig spüren.“
Das seit 2015 bestehende, 2018 zum Teil neu gestaltete Museum, initiiert von privaten Stiftungen, finanziell gefördert von Hamburger Unternehmen sowie der Hansestadt, wird von Gesellschaften und Vereinen betreut, die sich den im KQ präsentierten Künstlern verpflichtet fühlen. Und, wie von Cossel ergänzt, „von zahlreichen Ehrenamtlichen unterstützt, die den eigentlichen Museumsbetrieb gewährleisten“.
Nicht nur die Innenarchitektur – ein Ensemble ineinander übergehender Einzelmuseen – erscheint einmalig. Auch die KQ-Konzeption dürfte singulär sein. Unterscheidet sie sich doch signifikant vom Beethovenhaus in Bonn, dem Mozarthaus in Salzburg und dem Puccini-Museum in Torre del Lago. Von exemplarischen Erinnerungsorten also, die jeweils einem einzigen Komponisten gewidmet sind. Das KQ stellt in Dauerausstellungen eine Gruppe von Künstlern vor, denen zumindest ein Merkmal gemeinsam ist, der Bezug zur Hansestadt. Sie stehen für Hamburgs Bedeutung als Hochburg von Musikkultur vom Barock bis in die Moderne.
Die Auswahl ist illuster. Sie reicht von Georg Philipp Telemann, Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Adolf Hasse für das 18. Jahrhundert, über Felix und Fanny Mendelssohn sowie Johannes Brahms, die das 19. Jahrhundert repräsentieren, bis zu Gustav Mahler. Der aus Böhmen stammende Komponist kommt als 31-Jähriger zum Hamburger Stadttheater und ist als Dirigent in den Jahren 1891-1897 Stadtgespräch, ehe er an die Wiener Hofoper wechselt.
„Mahler“, betont Albrecht-Johannes Schultze, Vorstandsmitglied der Gustav Mahler Vereinigung, „ist im KomponistenQuartier der Vertreter der Moderne. Für ihn bedeutet Hamburg das Sprungbrett zu einer Karriere von Weltgeltung als Dirigent. Ebenso zu erster internationaler Aufmerksamkeit für ihn als Komponist.“ Die Ausstellung im KQ beleuchte Mahlers Hamburger Jahre in vielen Details. „Sie geht aber auch auf seine Zeit in Wien und New York ein.“
In den Lebensläufen und Künstlerbiographien der „Hamburger Sieben“ ist die Hanse- und Hafenstadt auf höchst unterschiedliche Weise prägend. So für den Bergedorfer Hasse. 1717 tritt er als junger Tenor in Oratorien auf, sammelt in der Oper am Gänsemarkt erste Erfahrungen mit dem Betrieb eines Musiktheaters und steigt danach mit Stationen in Neapel, Venedig, Dresden zu einem der bedeutendsten Komponisten von italienischen Opern auf. Für ihn ist Hamburg ähnlich wie für Mahler eine wesentliche, wenn auch vergleichsweise kurze Etappe. Und ein Ausgangspunkt in die Zukunft.
„Die Besonderheit der Hasse-Ausstellung im KQ“, erläutert Wolfgang Hochstein, Vorsitzender der Hasse-Gesellschaft Bergedorf, „liegt darin, dass wir versucht haben, die europäische, die internationale Bedeutung und Rezeption des Komponisten deutlich zu machen.“ Weitere Inhalte der Präsentation Hasses im KQ, ergänzt Hochstein, „fokussieren auf das Dramma per musica, die seinerzeit führende musikalische Gattung, deren herausragender Repräsentant Johann Adolf Hasse im mittleren Drittel des 18. Jahrhunderts war“.
Die Geschwister Felix und Fanny Mendelssohn verleben ihre Kindheit unweit der Michaeliskirche. Klavierunterricht, den die Mutter beiden gibt, und erste aufführungsreife Kompositionen deuten bereits vor dem Wechsel der Familie 1811 nach Berlin den künftigen künstlerischen Aufstieg an. Er führt Felix und Fanny, später verheiratete Hensel, nach Berlin, Felix danach nach Düsseldorf und Leipzig.
Ähnlich verhält es sich mit Brahms, der als junger Klavier- und Harmoniumspieler sowie Arrangeur Aufsehen erregt. Der 1862, knapp 30 Jahre nach seiner Geburt im Hamburger Gängeviertel, nach Wien übersiedelt, nachdem ihm in seiner Heimatstadt weder die Position des Leiters der Singakademie noch die eines Dirigenten des Philharmonischen Orchesters angeboten wird. Die Brahms-Ausstellung im KQ leuchtet insbesondere seinen Austausch mit bedeutenden Künstlern wie Joseph Joachim, Franz Liszt sowie Robert und Clara Schumann aus, die für seine Entwicklung als Komponist in seinen späten Hamburger Jahren entscheidend sind.
Telemann ist gleichsam der Nestor der „Hamburger Sieben“. 46 Jahre prägt er das Musikleben an der Elbe. Bei seinem Amtsantritt 1721 als Kantor des Johanneums und Musikdirektor der fünf Hauptkirchen gilt er bereits als einer der berühmtesten Komponisten in Europa. Mit Schöpfungen für das damalige Opernhaus am Gänsemarkt und lokalpatriotischen Werken wie der Suite Hamburger Ebb‘ und Fluth wirkt er auf seine Zeitgenossen und auch heute noch wie ein Hauskomponist der Stadt.
In die Fußstapfen Telemanns – sozusagen eine Hamburger Stafettenübergabe – tritt Carl Philipp Emanuel Bach als Kantor und Musikdirektor. Nach einer fast 30 Jahre währenden Tätigkeit als Kammercembalist am Hof Friedrichs II. spielt der zweite Sohn seines berühmten Vaters von 1768 bis 1788 eine hervorstechende Rolle in der Hamburger Musikszene, zum Teil mit öffentlichen Konzerten. Die dem Cembalovirtuosen gewidmete Schau im KQ vermittelt eine stilisierte Vorstellung von Bachs Wohnung, zu der zahlreiche Freunde sowie die Spitzen von Kultur, Wissenschaft und Handel pilgerten.
Die damalige Entscheidung für die „Hamburger Sieben“ ist ein Kompromiss, der Debatten um Anwartschaften, Genderaspekte und die Berücksichtigung anderer Künstler mit Bezug zu Hamburg vorausgehen. Wer von außen auf Hamburger Namen wie Reinhard Keiser oder Johann Mattheson verweist, trifft im Kreis der beteiligten Gesellschaften auf Sympathien. Genannt werden dort auch Namen wie der von Paul Dessau, 1894 in Hamburg geboren, oder der von Louise Caroline Reichardt, die von 1809 bis zu ihrem Tod 1826 als Musikpädagogin und Komponistin in Hamburg Neuland betritt.
Schultze verweist auf Sonderausstellungen, um weiteren Komponisten mit Verbindungen zu Hamburg saisonal Aufmerksamkeit zu verschaffen. So werde aktuell in der Brahms-Ausstellung über die Hamburger Jahre von György Ligeti informiert, von 1973 bis 1989 Professor für Komposition an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater.
„Kennzeichnend für das KQ“, erläutert von Cossel, „ist eine Balance zwischen aufschlussreichen Ausstellungsstücken und einer Vielzahl medial aufbereiteter Informationen.“ Das KQ-Inventar umfasst die klassischen Exponate des Museums. Stellwände, Vitrinen, Displays, Plakate, Abbildungen, Bücher, Notendrucke, originale Libretti, Entwürfe von Bühnenbildern und Kostümen. Vor dem Mahler-Museum zieht ein sportlich anmutendes Fahrrad Blicke an. Es entspricht dem Typ, den der Komponist in seinen Hamburger Jahren favorisiert. Im Innenhof in direkter Sichtlinie aus den Museumsräumen sind Dahlien und Päonien zu beobachten, die zweimal im Jahr blühen. Die Spezies sind nach Telemann benannt.
Tonträger und technisch aufbereitete Zugänge zu ausgewählten Kompositionen spielen eine wesentliche Rolle. Hörstationen beispielsweise im Bach-Museum bieten Besuchern die Gelegenheit, sich in die Eigenart seiner Werke zu vertiefen. Allein mit der Rezeption aller präsentierten Musikbeispiele ließe sich mühelos nahezu ein 24-Stunden-Tag füllen. Ihren Vorzug sieht die Geschäftsführerin darin, „dass sie auch unabhängig vom textlich vermittelten Wissen einen Besuch lohnend machen“.
Musikinstrumente aus der im KQ präsentierten Epoche bilden naheliegender Weise einen besonderen Reiz. Zu sehen sind ein Friderici-Clavichord, Lieblingsinstrument von Bach, ein Hitchcock-Spinett von 1730 im Telemann-Museum und ein von einer Hamburger Pianomanufaktur 1859 gebautes Tafelklavier. An ihm erteilte Brahms Unterricht. Das Highlight ist das selbstspielende Welte-Steinway-Klavier im Mahler-Museum. „Es bringt“, verrät Schultze, „eine Original-Einspielung Mahlers zu Gehör.“
Rund 1000 Besucher pro Monat zählt das KQ laut von Cossel. Eine Marke, die in den nächsten Jahren gesteigert werden soll. Die Aussichten dafür stehen nicht schlecht.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Matthias Plander
21. Januar 2024 | Drucken
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