Henry Purcell Miranda arrangiert von Raphaël Pichon Besuch am 7. Oktober 2022 (Premiere am 2. Oktober 2022)
Oper Köln Staatenhaus
Im Kosmos des Unberührbaren: Semi-Oper des Hochbarock avanciert zum furiosen Befreiungsdrama
Dido und Aeneasvon 1689 ist zumeist das einzige Werk, das Opernfreunde mit Henry Purcell in Verbindung bringen. Wahrscheinlich noch die drei Jahre später entstandene Semi-Oper The Fairy Queen, eine von annähernd 40 Schauspielmusiken, die der bedeutendste Komponist des englischen Hochbarock schreibt, häufig nach Stücken von William Shakespeare. Auf dessen Schauspiel The Tempest (Der Sturm) geht auch Purcells Komposition aus seinem Todesjahr 1695 vage zurück. Das Drama auf ein Libretto von Thomas Shadwell nach der Vorlage des Meister aus Stratford-on-Avon stellt einen Generationenkonflikt zwischen Prospero, dem von seinem Bruder gestürzten entthronten Herzog von Mailand, und seiner Tochter Miranda in den Mittelpunkt. Als Protagonistin einer fiktiven Handlung, die zwischen Macho-getriebenem Kriminalreißer und weiblichem Psychodrama schwankt, kehrt Miranda nun im Rahmen einer Deutschen Erstaufführung auf die Bühne der Oper Köln zurück. Corona-bedingt fünf Jahre nach dem Entstehungsjahr der Komposition.
Primär gedacht ist die Semi-Oper Miranda, die Bearbeitung des Barock-Spezialisten Raphaël Pichon, der Regisseurin Katie Mitchell und der Librettistin Cordelia Lynn in Koproduktion mit der Opéra Comique Paris, dem Théâtre de Caen und der Opéra National de Bordeaux als Folie gedacht, Stil und Kunstfertigkeit des Musikers Purcell als Exponent des Theaters im Elisabethanischen Zeitalters neu zu beleben. Er wolle, erläutert Pichon, „diesem außergewöhnlichen Repertoire die Möglichkeit geben, zu existieren und es wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zuführen“.
So wüst Shakespeares Stück, so unverwüstlich und beliebt der Stoff offensichtlich in den Händen von Autoren. Meredith Oakes schreibt ein sprachlich an Shakespeares Strophenlieder erinnerndes Libretto für den Komponisten Thomas Adès, dessen Oper Tempest 2004 in London uraufgeführt wird. Cordelia Lynn entwickelt eine eigene Version, die den Sturm aus Mirandas Sicht neu erzählt, woraus sich fast zwangsläufig eine feministische Sichtweise entwickelt. „Wir erzählen“, so formuliert es Mitchell, „eine moderne Geschichte mit musikalischen Mitteln des 17. Jahrhunderts.“
In dieser „modernen Geschichte“ inszeniert Miranda ihren eigenen Selbstmord, attackiert in einer für den Beerdigungsgottesdienst vorbereiteten Kirche als verschleierte Frau mit vorgehaltener Pistole die Trauernden, arbeitet sich rigoros an ihrem Ehemann Fernando und exzessiv an ihrem Vater ab. Bevor dieser im Finale an Suizid denkt, lässt Miranda ihr Schicksal in einem dreiaktigen Drama von Schauspielern Revue passieren. Verbannung, Vergewaltigung, Zwangsverheiratung als Kind. Der religiös geprägte Raum, die Kirche, als Schauplatz eines säkularen Dramas von heute, in dem der Unterdrückung der Frau früherer Jahrhunderte der Prozess gemacht wird. So kann einem der umsichtig agierende John Heuzenroeder in der Rolle des Pastors schon leidtun. Vermag er doch gegen den Furor Mirandas nichts auszurichten.
Ein Glück nur, dass Sebastian Scherer aus dem Knabenchor der Chorakademie Dortmund, der Mirandas kleinem Sohn Anthony mit seinem glockenreinen Knabensopran Gestalt und Stimme leiht, den unheilvollen Ort unbeschadet verlassen kann. Gemeinsam mit Miranda und ihrem Mann Ferdinand, der seine Verfehlungen bereut und um eine zweite Chance bittet. Ed Lyon gestaltet ihn mit stetig aufkommender Empathie.
Mit der modernistischen Ausstattung von Chloe Lamford (Bühne) und Sussie Juhlin-Wallén (Kostüme) entsteht in Relation zur Musik, bei der sich Pichon bei einigen wenigen Anleihen an Purcell-Zeitgenossen wie Matthew Locke undJeremiah Clarke weitgehend an Purcells Stil und Strukturen hält, ein eigentümlicher Kontrast. Es berühren sich Kosmen und Konventionen, die in der Realität niemals zusammenkommen können. Ein Phänomen, das aus dem neuzeitlichen sogenannten Regietheater Opern-Afficionados mehr als geläufig ist. Die Konstruktion der Stück und Inszenierung überwölbenden Metaebene gelingt Mitchells Team allerdings so gut, dass das Geschehen auf der neuzeitlich eingerichteten Bühne überlagert und so etwas in den Hintergrund drängt, unverdientermaßen.
Dabei ist die Aufführung musikalisch eine gelinde Hommage an die späte Blütezeit des Barock im Vorfeld der Dominanz, die Georg Friedrich Händel im London der Nach-Purcell-Ära mit seinen italienischen Opern, später seinen Oratorien entwickeln wird. Purcell, der wie sein späterer Nachfahre Wolfgang Amadeus Mozart gerade Mitte Dreißig wird, webt ein Geflecht von Arien und Ensemblenummern, in das sich die Sängerdarsteller in den Hauptpartien vorzüglich hineinsteigern, ungeachtet der englischen Sprache, die in Vokalwerken schwieriger zu artikulieren ist als etwa das Opern-Italienisch.
In der Titelpartie überzeugt Adriana Bastidas-Gamboa mit ihrem farben- und kontrastreichen Mezzo, der alle Höhen und Tiefen einer gequälten wie von Rache getriebenen Frau beherrscht. Einfach furios! Die Sopranistin Emily Hindrichs macht als Anna, Gattin Prosperos, das Unglück einer verzweifelten Seele mit dramatischen Ausbrüchen plausibel. Als Prospero gibt sich Alastair Miles, von vielen als idealer Verdi-Bass gerühmt, stimmlich in einer leicht schrundigen Verfassung. Als Brite hat er indes mit dem Text der Semi-Oper keinerlei Mühe. Die Besetzungen der übrigen Partien wie der reduzierte Chor der Oper Köln erfüllen ihre Aufgabe passabel.
Das in einer verkleinerten Besetzung agierende Gürzenich-Orchester Köln, auf historisch intendierte Aufführungspraxis ausgerichtet, ist zwar nicht in einem Graben untergebracht, über das das Staatenhaus auch nicht verfügt. Die Position fast höhengleich mit der Bühne und auf Augenhöhe mit dem Publikum in den ersten Reihen garantiert indes keineswegs einen Primat der Musik. Händel-Spezialist George Petrou geleitet das Orchester wie die Solisten souverän durch die verschlungenen Pfade von Partitur und Handlung. Herausragende Orchestersolisten schaffen zudem eine Raum schaffende Atmosphäre, so der Lautenspieler, die beiden Künstler an Trommel, Pauke und Glocke, der eine links, der andere rechts außen positioniert, und Fernando Aguado an Cembalo und Orgel, der als einziger namentlich im Programmheft erwähnt wird.
Nach letzten markanten Glockenschlägen sowie einem verhaltenen Ausglimmen der Streicher feiert das Publikum alle Mitwirkenden mit anhaltendem begeistertem Jubel. Ob indes das Eintreten des Franzosen Pichon für das Werk des Engländers Purcell Erfüllung finden wird, werden erst die nächsten Jahre entscheiden. On verra.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Sandra Then
09. Oktober 2022 | Drucken
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