Im Palast des Belcanto: Ben Baur lenkt den Fokus weg vom Mythos weiblicher Verworfenheit hin zur Musik

Xl_lucrezia_borgia_foto_bettina_st__-tup © Bettina Stöß/TUP

Gaetano Donizetti Lucrezia Borgia Besuch am 30. November 2022 Premiere 26. November 2022

Aalto Theater Essen Opernhaus

Im Palast des Belcanto: Ben Baur lenkt den Fokus weg vom Mythos weiblicher Verworfenheit hin zur Musik

Drei Melodramen komponiert Gaetano Donizetti zwischen 1830 und 1835, in deren Zentrum jeweils eine Fürstin oder Königin steht. Alle drei Werke des Schülers von Johann Simon Mayr ebnen oder sichern Primadonnen den Weg zu Belcanto-Gipfeln. Guiditta Pasta in der Titelrolle von Anna Bolena dank der Uraufführung und in den Jahren danach. Joan Sutherland als schottische Königin in Maria Stuarda. Montserrat Caballé und Edita Gruberová schließlich in der Titelpartie von Lucrezia Borgia. Die Neuproduktion des Melodramma in einem Prolog und zwei Akten auf ein Libretto von Felice Romani am Essener Aalto-Theater hat nicht wenig mit dem Belcanto-Nukleus der Werkgeschichte zu tun, auch wenn sich dieser Eindruck vordergründig nicht aufdrängt.

Wie wohl keine andere Familie stehen die Borgias für den skrupellosen Willen zur Macht und die abgrundtiefe Korruption des Papsttums zur Zeit der Renaissance.  Lucrezia Borgia, uneheliche Tochter des Mannes, der später als Papst Alexander VI. bekannt wird und sie dreimal aus politischen Gründen verheiratet, ist ihr exponierter Mythos. In ihm verbinden sich Fiktion und Wirklichkeit zu einer idealen Ausbeute für Medien aller Jahrhunderte. Victor Hugo mischt 1833 in seiner Tragödie Lucrèce Borgia die Ingredienzien von Inzest, Giftmord und Bespitzelung zu einem Spektakel, das noch im selben Jahr Komponist und Librettist zu ihrer Seria reizen. Am zweiten Weihnachtstag 1833 wird sie an der Mailänder Scala uraufgeführt.

Liebes- und Schicksalspaar sind Lucrezia und Gennaro, ihr unehelicher Sohn, der sie begehrt, ohne um ihre Identität als seine Mutter zu wissen. Eine Konstellation, die später in Giuseppe Verdis Don Carlo erneut auftaucht. Sie versucht alles, ihn vor Feinden und Intrigen abzuschirmen, kann aber eine ungewollte Annäherung beider und die daraus entstehende Kette von Gewalt und Tod nicht verhindern. Don Alfonso, Herzog von Ferrara und Lucrezias Ehemann, sieht in Gennaro einen ihrer Liebhaber und verfolgt daraufhin finstere Rachepläne. Auf einem Fest kommt es zur tödlichen Offenbarung. Gennaro erkennt, dass er ein Borgia ist, und stirbt nach Gift und verweigertem Gegengift in den Armen seiner Mutter. Diese bricht zusammen, nicht ohne zuvor in dem dramatischen Ausbruch Era desso il figlio mio sich zu ihrem Sohn zu bekennen.

Schon im Prolog wird Lucrezia das Register ihrer Mordanstiftungen und sonstigen Gräuel vorgehalten, was dramaturgisch den ungewohnt zahlreichen marginalen Nebenrollen prägnante Auftritte verschafft. So schaurig-wirkungsvoll diese Litanei der Verfehlungen, so wenig freilich erweisen sie sich als belegt. 1876 „rehabilitiert“ der Historiker Ferdinand Gregorovius Lucrezia als „liebenswürdiges und sanftmütiges, leichtsinniges und unglückliches Weib“. Weitgehend willenlos habe die Fürstin als Werkzeug in den Händen des ruchlosen Vaters und Bruders dienen müssen. Schon Donizetti muss eine Ahnung von der anderen Seite des Prototyps weiblicher Verworfenheit gehabt haben. Ordnet er ihr doch in etlichen psychologisierenden Passagen Melodien voll von romantischem Pathos und inniger Lyrik zu, was immer wieder am Spiel der Harfe herauszuhören ist.

Jede Inszenierung von Lucrezia Borgia muss eine Position zu der Frau finden, deren mythische Überhöhung allein aus ihrer Epoche zu verstehen ist. Man kann eine Haltung wie Christof Loy vor gut einem Jahrzehnt in München durch eine ahistorische Sichtweise erreichen, indem die Protagonisten um Edita Gruberová in der Alltäglichkeit von heute in Businesskleidung auftreten und so willkürlich ihrem historischen Kontext gegenüber entfremdet werden. Man kann aber auch den Weg wählen, den Ben Baur am Aalto-Theater einschlägt. Der Regisseur und gelernte Bühnenbildner, der mit Donizettis Lucia di Lammermoor 2014 in Saarbrücken sein Regiedebüt gibt, lässt das Drama in einem Palazzo mit Säulen und Marmorkamin spielen, was unwillkürlich eine Vorstellung von dem Stil der Renaissance und ihrem luxuriösen Zeitgeist hervorruft.

Die „untermöblierte“, insgesamt spärliche Ausstattung inklusive der von Uta Meenen geschaffenen wenig prätentiösen Kostüme schafft so den Raum, in dem sich das Drama als seelenvolles Musiktheater, als Belcanto-Oper, voll entfalten kann. Baur bewahrt sich wie sein Regiekonzept vor einer Ent- oder Verfremdung des Sujets auf dem Pseudoalter einer sich als „modern“ ausgebenden Inszenierung. Er erlaubt statische Posen an der Rampe sowie Redundanzen in der Bewegung. So allerdings, folgert der historisch interessierte Opernliebhaber, sind die großen Opern in den goldenen Jahren des Belcanto zwischen 1820 und 1840 zur Aufführung gelangt. Wieso nicht daran erinnern?

Baurs Inszenierung ist unter diesem Vorzeichen indes nicht wie automatisch aus dem Schneider. Eingestreute Ballettszenen mit martialisch gewandeten Kriegern oder auch Straßenräubern sowie plötzlich einfallende traurig dreinblickende Kinder unterlegen dem Ganzen eine Ebene, die eher irritiert als kommentiert. Der Bühnenvorhang, der mal nur zur Hälfte, mal zur Gänze geöffnet wird, gaukelt eine Dynamik vor, die die Regie gar nicht will. Auch der Effekt, dass Gennaro mit seinem Dolch aus der Palastinschrift Borgia das B auskratzt, was zur Wortbildung orgia, übersetzt Orgie, führt, wird verschenkt. Loys Münchner Inszenierung setzt hier genau auf das Plakative, auf den größtmöglichen Effekt.

Die Essener Philharmoniker unter Leitung Andrea Sanguinetis entlocken Donizettis Partitur mit ihren wechselvollen Klangbildern die ganze Palette an Farben und Kontrasten. Sie reicht von tieftrauriger Schauerromantik bis hin zu den sanguinen Höhen, auf denen Lukrezia ihren Lebenstrotz ihrer feindlichen Umgebung entgegenschleudert. Der von Klaas-Jan de Groot einstudierte Opernchor zeigt sich von seiner besten Seite.

Belcanto-Format bieten die Sopranistin Marta Torbidoni in der Titelpartie und der Tenor Oreste Cosimo als Gennaro. Das Publikum ziehen sie gleich im dramatischen Prolog auf ihre Seite. Torbidoni mit der Romanze Come è bello!. Beide mit dem anschließenden Duett Ciel!-Che vegg’io? Große Bühnenpräsenz beweist Torbidoni mit ihrer finalen Szene, die seelische Größe mit menschlicher Entsagung vereint. Der Jubel von Parkett und Rängen, der hernach über ihr hereinbricht, gilt später in nuancierten Dosierungen allen Mitwirkenden.

Eine Enttäuschung ist der Bariton Davide Giangregorio als Herzog Alfonso. Seine in der Mittellage etwas brüchige Stimme, die sich durch den Korridor eines unnatürlichen Vibrato schlängelt, steht in einem merkwürdigen Kontrast zu seiner virilen Erscheinung. Die Mezzosopranistin Liliana de Sousa beeindruckt als römischer Edler Maffio Orsini mit spielerischer wie vokaler Leichtigkeit. Die gute Ensembleleistung vervollständigen Baurzhan Anderzhanov als Don Apostolo Gazella, Edward Leach alsJeppo Liverotto, Karel Martin Ludvik als Ascanio Petrucci, Joshua Owen Mills als Oloferno Vitellozzo, Tobias Greenhalgh als Gubetta und Mathias Frey in der Rolle des Rustighello.

15 Jahre nach der Uraufführung von Lucrezia Borgia stirbt Donizetti in seiner Heimatstadt Bergamo. Sein Tod beendet ein vier Jahre währendes psychiatrisches Leiden. Ihn mit Inszenierungen auf die Bühne zu bringen, die mehr über seine als unsere Zeit erzählen, ist nicht der geringste Dienst gegenüber einem Großen der Italienischen Oper.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Bettina Stöß/TUP

 

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