Im Sog der Bassettklarinette: Musikalische Leistung kann Absurdität der Regie nicht vergessen machen

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La clemenza di Tito Wolfgang Amadeus Mozart Besuch am 22. Juni 2023 Premiere am 19. Mai 2023

Stadttheater Gießen

Im Sog der Bassettklarinette: Musikalische Leistung kann Absurdität der Regie nicht vergessen machen

Nicht weniger als 70 Komponisten, darunter Antonio Caldara, Johann Adolf Hasse, Christoph Willibald Gluck, Nicolò Jomelli, vertonen den Titus-Stoff, der auf den französischen Vorbildern Berenice von Racine und Cinna von Corneille beruht. Unter ihnen nimmt La clemenza di Tito, Wolfgang Amadeus Mozarts letzte Seria und Abschluss des in ihm vollendeten musikalischen Klassizismus, eine herausragende Stellung ein. 1807, 16 Jahre nach dem Tod des Komponisten, wird sie in der späteren Festspielstadt Salzburg aufgeführt, danach aber viele Jahrzehnte ignoriert, ehe sie nach 1945 in den Festivalstädten Europas, ferner in Wien, Berlin, New York eine Renaissance erlebt. Der Regisseur Jean-Pierre Ponnelle überzeugt in einer Aufführungsserie ab 1969 die Opernwelt von der Aufführbarkeit des Werks. „Die Wunder des Titus“, schreibt der Opernkritiker Joachim Kaiser in seinem Buch über die Figuren in Mozarts Opern, „entdeckt man, wenn überhaupt, erst spät.“ Eine Prophezeiung, die sich auch werkgeschichtlich erfüllt.

Heute ist das Politdrama um einen Staatsstreich im Jahr 79 unserer Zeitrechnung zu Rom auf ein Libretto von Caterino Tommaso Mazzolà nach dem Drama von Pietro Metastasio auch auf mittleren oder kleinen Bühnen selbstverständlich, 2017 etwa am Aalto-Theater in Essen, jetzt am Stadttheater Gießen.

Jede Inszenierung der wundersamen Geschichte von der Intrige einer familiären Clique gegen Tito Vespasiano, die sich spektakulär im brennenden Kapitol manifestiert, muss sich zumindest einer Aufgabe stellen. Muss eine Erklärung finden und anbieten, warum der Herrscher über das Imperium Roms auf blutige Rache verzichtet und der Versöhnung, der clemenza, den Vorzug gibt.

In der letzten Produktion des aktuellen Spielplans kümmert sich das Gießener Haus, das 2015 eine konzertante Titus-Aufführung herausbringt, nicht wirklich um eine Antwort. Vielmehr überlässt sie die Szene der schwedischen Regisseurin Helena Röhr, die auf die absurde Idee kommt, Rom in das Dallas der gleichnamigen US-Fernsehserie zu verwandeln, die im Zeitraum 1978 bis 1991 produziert wird und die Geschichte der texanischen Familie Ewing erzählt. Ab 1981 ist die Soap im deutschen Fernsehen zu erleben. Sie habe, begründet Röhr, ihre Auswahl, sich nicht auf die TV-Figuren wie JR Ewing, Bobby, Sue Ellen oder Pamela bezogen. Vielmehr sich am Beziehungsgeflecht der Charaktere orientiert und vom äußeren Erscheinungsbild der Serie inspirieren lassen.

Sollte die Regisseurin via Dallas die Absicht verfolgen, dem Publikum von heute die Vorgänge in der Oper nahezubringen und halbwegs plausibel erscheinen zu lassen, wäre eine solche Denkweise nicht weit von einer Entmündigung der Öffentlichkeit entfernt, so ihr nicht zugetraut würde, einen geschichtlichen Stoff im historischen Kontext zu verstehen. Nach diesem Muster ließe sich noch mancher Opernstoff banalisieren, Webers Freischütz zum Beispiel in die Schwarzwaldklinik des ZDF transponieren.

Röhn, die auch für die Bühne verantwortlich ist, taucht das heikle Opus um die Macht des Verzeihens in Versatzstücke eines Country-and-Western-Ambiente, wozu insbesondere die Kostüme von Åsa Gjerstad beitragen, ziemlich konkret, dann wieder abstrakt. Tito soll nicht JR Ewing sein, sieht aber mit seinem weißen Cowboyhut exakt so aus. Die prallbunten Kleider der Damen am Hof rufen die Vorstellung einer Cocktailparty hervor, die bis in den Abend andauert, woraufhin Mäntel mit Pelzkragen bevorzugt werden.

Zentrales Ausstattungselement ist eine weiße Couch von der Art eines handelsüblichen Möbels, auf dem die Mitglieder der noblen Familie alias der Öl-Dynastie in wechselnden Konstellationen Platz nehmen, um fernzusehen. Dann und wann werden Kissen in den Raum geschleudert, weil wieder jemand auf der Suche nach der Fernbedienung ist. Die Couch ist zumindest so hoch, um nur in Umrissen zu zeigen, wie sich Annio und Servilia in erotischem Feuer übereinanderwerfen. Von der Couch pendeln die Protagonisten regelmäßig zu einem rechts positionierten Kühlschrank, um sich jeweils das nächste Getränk zu besorgen. Der Drink ist das Element, das die Staatsgeschäfte am Laufen hält oder gar befeuert.

Mit der populistischen Transformation in eine beliebige Welt ist das Thema der Findung angemessener Personenbeziehungen weitgehend erfüllt. Immerhin deutet Röhn eine homoerotische Verbindung des Kaisers zu Sesto an, die sich diskutieren ließe. Eine innige Umarmung, dann küssen sich die beiden. Publio, der Anführer von Titos Leibwache, tritt noch am ehesten realistisch auf. Er zieht und zerrt an Sesto, als er ihn vor den Kaiser führt. Eine Lanze unterstreicht seine paramilitärische Funktion.

Das Gießener Haus ist gerade einmal zur Hälfte gefüllt. Das hindert die Sängerdarsteller überhaupt nicht, sich in eine Aufführung zu werfen, die wenigstens Mozart und seiner genialen Musik gerecht wird. In der Titelpartie des Tito ist Markus Francke, als Gast vom Theater Ulm kommend, passabel, zumal er sich im Verlauf des Geschehens steigert und in seiner von Koloraturen gespickten Solo-Arie Se all’impero, amici Diei seinen Verzicht auf die Herrschaft für den Fall erklärt, die Treue in seinem Imperium nicht mit Liebe erreichen zu können. Die an Einsamkeit leidende starke Persönlichkeit, die von allen verstanden werden will, ist er als Darsteller freilich nicht. Weitgehend dürfte dies der Regie anzulasten sein, weil er quasi satirisch mit Cowboyhut agieren muss, während er in der Rolle den Impulsen einer frühen Aufklärung folgt.

Als Sesto gelingt der Mezzosopranistin Jana Marković eine stimmlich hinreißende Gestaltung der Figur, die in Mazzolàs Personal ein Maximum an innerer Zerrissenheit und äußerer Verwandlungsfähigkeit vorweist. Sie hat für ihr Schicksal, in der Liebe zu Tito und zu Vitellia hin und her geworfen zu sein, wie für ihre fundamentale Opferbereitschaft im Finale packende Temperamente und differenzierte Farben. Ihre Soloarie Parto, ma tu ben mio wird zu einem musikalischen Juwel des Abends, da Marković sie zu den verführerischen Tönen einer Bassettklarinette intoniert, was die Vorstellung heraufbeschwört, die Mozart bei der Komposition des Stückes beseelt haben dürfte. Das für die Gießener Aufführungsserie speziell aus Paris beschaffte Instrument ermöglicht einige tiefe Töne, die auf der üblichen B-Klarinette nicht zu erreichen sind.

Einen vergleichbaren Effekt erzielt die Sopranistin Julia Araújo als exzentrische Vitellia, der sie Konturen der Dämonin und Intrigantin vermittelt. Jetzt ist es ein Bassetthorn, das ihre wie ein Konzertstück in die Oper eingeschobene Jahrhundert-Arie Non più di fiori vaghe catena begleitet. Das dreiteilig aufgebaute Rondo inszeniert sie – allein auf der Bühne – wie einen Showauftritt des Hochbarocks. Sie schreitet nach vorn zum Rand, den sie mit einer weiteren Bewegung zum Graben hin erreicht, bewegt sich im Licht einmal nach links, dann durch einen Schatten zum Licht nach rechts, verharrt, um Mitleid flehend. Es ist im Übrigen der einzige Moment, in dem die Regisseurin Mozarts Werk und seine Partitur wirklich ernst zu nehmen scheint.

Die Sopranistin Annika Gerhards zeichnet Servilia, die Schwester Sestos und phasenweise Favoritin des Cesaren, mit der Unbeirrbarkeit, mit der sie ihre Liebe zu Annio verfolgt. Dass sie auch weiche Töne beherrscht, beweist sie anrührend in ihrer Soloarie S‘altro che lacrime. Mozart komponiert Annio wie die Partie des Sesto ursprünglich für Kastratenstimmen, um noch einmal die konventionelle Form der Opera seria zu betonen. Die Mezzosopranistin Annika Westlund interpretiert die Rolle des Sesto-Freundes mit vokaler Wärme und spielerischer Intensität. Ihr liegt insbesondere Mozarts Vorliebe für kurze Preziosen, etwa das Duettino Deh prendi un dolce amplesso zusammen mit Sesto.

Die Qualität der Gießener Sängerformation zeigt sich vor allem in den Ensemble-Nummern, die Mozart gezielt in die Abfolge von Arien und Rezitativen einbringt, nicht zuletzt im Versöhnungsfinale, einem Sestetto con coro. Der Opernchor in der Einstudierung von Jan Hoffmann hat starke Phasen und nähert sich auch dank der Tönung durch die Holzbläser im Klangbild dem Stil der Divertimenti, die gerade Mozart schätzt. Das Philharmonische Orchester Gießen mit Vladimir Yaskorski am Pult erweist sich als kompetenter wie sensibler Partner der Sängerphalanx.

Das Publikum zeigt sich mit dankbarem anhaltendem Beifall mit der Aufführung sehr einverstanden. Der besondere Applaus für die Sängerdarsteller sowie den Dirigenten scheint dafür zu sprechen, dass es vor allem die musikalische Seite der Aufführung goutiert. Es ist in dieser Vorstellung nach der Premiere allerdings auch niemand für das Regieteam zur Stelle, an den sich Reaktionen auf die Inszenierung hätten richten können. So ist das eben im täglichen Opernbetrieb, wenn auch irgendwie bedauerlich.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Christian Schuller

 

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