Kaleidoskop der Stile: Phasenweise befremdliche Inszenierung eines bis heute unterschätzten Werks

Xl_6922_hrodiade_24_foto_hans_joerg_michel © Copyright: Hans Jörg Michel

Hérodiade Jules Massenet Besuch am 4. Juni 2023 Premiere am 27. Mai 2023Deutsche Oper am Rhein Oper Düsseldorf

Kaleidoskop der Stile: Phasenweise befremdliche Inszenierung eines bis heute unterschätzten Werks

In Jules Massenets Hérodiade gibt es die Figur des Sterndeuters Phanuel, der in der Wüste lebt und sogar Doppelsterne erkennen kann. Ob er den Unstern deuten könnte, der über der letzten Neuproduktion in der aktuellen Spielzeit der Rheinoper zu hängen scheint, wäre eine gewiss reizvolle Frage. Nach einem Unfall zieht sich Luiza Fatyol eine Verletzung zu, woraufhin sie in der Premiere die Rolle der Salomé bandagiert mit einer Armschlinge am Rand der Bühne singt und von der Regieassistentin Lotte Zuther in der Handlung vertreten wird, was auch in der zweiten Aufführung der Fall ist.

Als wäre dieses Ungemach nicht genug, fällt nunmehr Luke Stoker, der Sänger des Phanuel, aus. Immerhin ist er in der Lage, gekleidet in das weiße Gewand des Astrologen, den spielerischen Teil der Rolle zu mimen. Den vokalen Part übernimmt der kanadische Bass Clarke Ruth, der dem Ensemble der Opernsparte des Gießener Stadttheaters angehört. Clarke, wie das Publikum vor Beginn der Aufführung erfährt, hat einzig für den Auftritt am Rhein die Partie des Chaldäers einstudiert. Sein Einspringen am Notenpult dicht vor dem Orchestergraben des Hauses quittiert das Publikum am Ende mit besonderem Applaus.

Wer die Protagonisten der 1881 in Brüssel uraufgeführten Oper mit dem Personal des Musikdramas Salome von Richard Strauss in Beziehung setzt, liegt keineswegs falsch. Massenets Komposition mit dem Textbuch von Paul Milliet undHenri Grémont fußt auf der 1877 erschienenen Erzählung Hérodias von Gustave Flaubert, während das 1905 in Dresden herausgekommene Strauss-Opus auf dem Text von Oscar Wilde beruht, ins Deutsche übertragen von Hedwig Lachmann. Bestimmt bei Wilde die Tochter des Königs mit ihrer morbiden Lüsternheit das am Ende tödliche Geschehen, sind bei Flaubert und Massenets Librettisten die Beziehung von Hérodiade zu Salomé, ein klassischer Mutter-Tochter- Konflikt, und das Machtspiel des Tetrarchen von Judäa die Treiber des Geschehens, das ebenfalls blutig endet.

Ausgangspunkt des Plots von Massenets Oper ist eine innerfamiliäre Verfehlung. Hérodiade lässt ihre Tochter Salomé in Rom zurück, um ihren Schwager Hérode zu heiraten. Salomé trifft auf der Suche nach ihrer Mutter in Jerusalem auf Johannes den Täufer, der in der Oper Jean genannt wird und sich durch öffentliche Kritik an Hérodiade das Herrscherpaar zum Feind gemacht hat. Als Hérode Salomé erblickt, verfällt er regelrecht der ihm unbekannten Schönen. Doch diese weist den König ab, da ihre vom Glauben getragene Liebe allein Jean gehört. Im Machtkampf Hérodes gegen die Römer, die von dem Konsul Vitellius repräsentiert werden, erkennt der Tetrarch in Jean seinen Rivalen und ordnet den Tod des Paares an. Hérodiade gibt sich schlussendlich als Mutter Salomés zu erkennen, kann aber den Lauf der Dinge nicht mehr beeinflussen. Jean wird hingerichtet, Salomé tötet sich selbst.

Die Inszenierung von Lorenzo Fioroni ist ein Musterbeispiel für eine sich modern ausgebende Regie, die sich der werkgetreuen Wiedergabe alttestamentarischer und anderer biblischer Stoffe entzieht, worüber man eine konstruktive Diskussion durchaus führen könnte. Eine Nachverfolgung von Inszenierungen von Samson und Dalila, Semiramide, I Lombardi alla prima Crociata undAkhnaten in den vergangenen Jahrzehnten würde voraussichtlich erstaunliche Aufschlüsse über zunehmende Distanzen zu den originalen Vorlagen liefern. Gäbe es die Musik nicht – im Falle von Hérodiade ein Superlativ an eigenen Melodien und speziellen Orchesterfarben -, wären diese Stücke für den Spielplan vermutlich verloren. Wer schon würde Giuseppe Verdis Nabucco allein wegen des Librettos aufführen?

Bei der Düsseldorfer Produktion verlegt sich der Regisseur auf das „Phänomen des Eklektizismus“, das er dem Werk Massenets zuschreibt. Daraus leitet er die Sinnhaftigkeit seines „roten Fadens“ für die Inszenierung ab, Stilelemente aus unterschiedlichen historischen oder kulturellen Kontexten zu einem Kaleidoskop, zu einer eigenen collagenhaften Wirklichkeit zusammenzusetzen. Diese „Wirklichkeit“ entpuppt sich als eine beliebige Mixtur von historischen Zeiten, Schauplätzen, Identitäten und Ikonographien. Was mit diesem Leitfaden Paul Zoller an Bühnenausstattung und Katharina Gault an Kostümen geschaffen haben, ist dabei fraglos originell, bisweilen verblüffend. Doch kann sich der konzeptionelle Überbau Fioronis dem Publikum nicht ohne weiteres erschließen.

In der Sicht des Regisseurs ist die Belle Époque, in der die Grand opéra ihre Vollendung erlebt, jene Phase, in der die kolonialistische Sicht Europas auf die übrige Welt unübersehbar wird wie der Pariser Eiffelturm. Das hindert Fioroni überhaupt nicht, in einem Prélude eben jene Epoche in ihrer Hauptstadt Paris nostalgisch-schön Revue passieren zu lassen. In Christian Weissenbergers gekonntem Video flaniert zu den Klängen der Ouvertüre das Alter Ego des Hérode, ein elegant gekleideter Schauspieler, durch die schönsten Viertel der Stadt, die Treppen hinauf zur Kirche Sacré-Cœur, danach in den Louvre und später in das Bahnhofsbistro Le train bleu, Mekka der reichen Bourgeoisie.

In diesen Spaziergang der Sinnlichkeit platzt eine Rucksacktouristin, die sich als Salomé entpuppt, unter der Pariser Bevölkerung bewegt, die indirekt auch etwa mit dem Volk von Judäa zu tun hat, und später auf Hérode in genau dem Bistro trifft, durch das dessen Alter Ego genießerisch gewandert ist. Die intensiv genutzte Bühnentechnik erlaubt es, das Bild des Bistros durch ergänzende Elemente wie eine Theaterloge oder weitere Videoeinspielungen zu erweitern. So wird nachvollziehbar, wie Hérodiade um Hérode buhlt, es dann aber zum Bruch kommt, weil der Tetrarch sich zunächst weigert, den Propheten hinrichten zu lassen.

Brutal-naturalistisch wird die Hinrichtungsszene ausgespielt. Zunächst wird mit akribischer Handwerkskunst der Käfig für den bei der Herrschaft wie beim Volk in Ungnade gefallenen Propheten gezimmert. Dann nach einer längeren Übergangspause mit Schreien von Krähen vor dem geschlossenen Vorhang dessen Ende auf dem elektrischen Stuhl in US-Manier erschreckend realistisch gezeigt, beobachtet von der königlichen Familie und Salomé, die Hérodiade mit einer Pistole erschießt und sich danach tötet.

Sind die durch die Wüste ziehenden und gegen den Sandsturm ankämpfenden Kaufleute noch einigermaßen als Widerschein des Orients zu erkennen, so geraten die arabischen Tänze der Mädchen im Palast des Hérode zur reinen Karikatur. Inspiriert vom Orientalismus, aber zugleich als artifiziell, als künstliche Form entlarvt. Es ist einer von zahlreichen Momenten in dieser Inszenierung, die orientalische Exotik als Projektion einer männlichen Perzeption zu enthüllen.

Hérodiadezählt zu den französischen Opern, die nicht auf Anhieb als Grand Opéra erkannt und geschätzt werden und es selbst in Paris schwer haben, den Weg in die ersten Theater der Stadt zu finden. Ungeachtet der besonderen Umstände des Abends entwickelt sich die Aufführung musikalisch zu einer glanzvollen Widerlegung der Vorbehalte, die Massenets Komposition mit ersten Anzeichen des aufkommenden Verismo umwittern. Mit dem einfühlsamen Sébastien Rouland, dem Saarbrücker GMD, am Pult profilieren die Düsseldorfer Symphoniker die unterschiedlichen Tonbilder und Atmosphären der vier Akte zu einem hochromantischen Gesamtbild, in das die differierenden Lokalkolorite – die Tänze im orientalischen Stil, der Schlachtgesang der Soldaten Roms, das religiöse Bekenntnis der Juden – stimmig eingebettet sind.

Die Sängerdarsteller überzeugen in den kaleidoskopartig strukturierten schillernden Charakteren wie in den stilistischen Überspitzungen. In erster Linie der französische Tenor Sébastien Guèze, der die Partie des Jean mit schönem Timbre und im hohen Register mit eleganter frankophil gefärbter Ausdruckskraft gestaltet. Als Hérode imponiert der Bariton Bogdan Baciu mit Vehemenz in der Stimme und energischem Aplomb im Spiel. Die Illusion seines Alter Ego gelingt dem Schauspieler Andreas Bittl hervorragend. Jorge Espino macht mit seinem leicht flackernden Bariton aus Vitellius eine amüsante Karikatur.

Ramona Zahariaist in der Titelpartie die hinterhältige Intrigantin, die ihre Wut über die erlittene Kränkung in einen immensen Furor steigert, par excellence. Die Mezzosopranistin zieht von greller Höhe bis zu stupender Tiefe alle Register, um sich in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu katapultieren. Luiza Fatyol löst als Salomé von der Rampe ihre heikle Aufgabe famos. Lotte Zuther, ihre Darstellerin auf der Bühne, macht ihre Sache erstaunlich gut. In den weiteren Rollen bewähren sich Valentin Ruckebier als Der Hohepriester, Verena Kronbichler als junge Babylonierin und Sookwang Cho als Stimme aus dem Tempel.

Der ungewöhnlich umfangreiche Aufwand an Choristen – der von Gerhard Michalski trefflich einstudierte Opernchor, dazu der Extrachor und der von Justine Wanat geleitete Kinderchor – wird durch die erbrachte vorzügliche Leistung mehr als gerechtfertigt. Dabei folgen die Chorsänger nicht nur der Partitur, sondern auch einer Auftrittsregie, in der die singenden Kinder einmal von den Seitentüren ins Parkett strömen und „Strüssje“ in der ersten Reihe verteilen.

Das Publikum im ansprechend besuchten Haus dankt allen Mitwirkenden mit großem anhaltendem Jubel, insbesondere den Einspringern an der Rampe und auf der Bühne. Es macht sich ein Gefühl breit, als sei man noch einmal davongekommen. Doch bekanntlich sind Probleme dafür da, um sie zu lösen. Warum sollte der Opernbetrieb da eine Ausnahme machen.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Hans Jörg Michel

 

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