La Bohème Giacomo Puccini Besuch am 2. September 2023 Premiere
Oper Dortmund
Kino des Lebens: Mehmerts einfühlsame Regie nimmt das Sujet ernst und bringt das Publikum hinter sich
Die Oper Dortmund ist von einem Fachmagazin als das beste Opernhaus des Jahres 2022 ausgezeichnet worden. In der Begründung der Jury werden unter anderem ein kluger Spielplan aus Raritäten und Bekanntem, das Engagement von herausragenden Sängerinnen und Sängern sowie das Symposium Wagner-Kosmos zum Werk Richard Wagners hervorgehoben. Passt zu diesen Kriterien die Neuproduktion von Giacomo Puccinis La Bohème in der Inszenierung des Theater- und Musicalregisseurs Gil Mehmert? Gilt sie doch weltweit als Blockbuster unter den Werken, die Opernliebhaber verehren, für volle Häuser sorgen und als „Versöhnung“ des Publikums funktionieren, wenn es sich durch Zumutungen des Regietheaters verstört oder überfordert fühlt.
Die Antwort lautet: Ja. Nicht nur weil das Publikum im fast voll besetzten großen Saal die Aufführung mit einem Orkan an Applaus bedenkt. Es feiert zugleich ein Regiekonzept, das sich der Alltäglichkeit eines Lebens von „kleinen Leuten“ nicht verschließt. Das ganz im Gegenteil das Kino ihres Lebens mit Mitteln zeigt, die selbst den Vorstufen der Filmdramaturgie entstammen, die schon im Libretto und in der Partitur Puccinis mit ihrer revolutionären Kontrastdramaturgie eingeflossen ist.
Puccinis 1896 in Turin uraufgeführtes Werk mit dem Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa, das den auch in einer Bühnenfassung existierenden Scènes de la vie de bohème von Henri Murger aus dem Jahr 1851 aufgreift und fortentwickelt, spielt in Paris um das Jahr 1830. Ist im Original eine Mansarde über den Dächern von Paris der Ort, in dem die Romanze von Rodolfo und Mimi beginnt und endet, siedelt Mehmert im Team mit dem Bühnenbildner Jens Kilian und dem Kostümgestalter Falk Bauer das Geschehen auf dem Dach eines Bürgerhauses mit weitem Blick über das Häusermeer der Stadt an.
Der Poet Rodolfo, der Philosoph Colline, der Maler Marcello und der Musiker Schaunard führen hier ein unbeschwertes, aber auch an Entbehrungen und Enttäuschungen reiches Leben. Ihr Zuhause erinnert mit Bett, Badewanne, Kohleofen eher an eine Haltestelle für Busse und Bahnen. Sie pflegen einen frivolen bis sarkastischen Umgangston. Deutlich wird dies insbesondere in der Geschichte vom vergifteten Papagei, die Morgan Moody in der Rolle des Schaunard als derben Spaß erzählt. In ihrer Lebensfreude lassen sie sich nicht stören, als der Vermieter Benoît die Mansarde betritt, um die rückständige Miete zu kassieren. Mit anzüglichen Scherzen komplimentieren die Freunde ihn hinaus. Ian Sidden spielt ihn mit der Einsicht des Alten, der gewohnt ist, bei der jungen Generation aufzulaufen.
Das fröhliche Treiben schlägt abrupt, wie es für Puccinis disruptive Stimmungsumschwünge in dieser Oper stilbildend wird, in sein Gegenteil um, als die Nachbarin, die Näherin Lucia alias Mimi, an der Tür klopft und um Licht für ihre erloschene Kerze bittet. Rodolfo und Mimi verlieben sich ineinander. Der Tenor Sungho Kim gestaltet die Arie Che gelida manina, die die Liebesszene einleitet, mit glasklarem Timbre, mächtiger Parforce und einer sicheren Höhe. Anna Sohn schließt in ihrer Mimi-Erzählung Che gelida manina mit glockenreinem Sopran und lyrischer Eindringlichkeit an und zu Kim auf. Ihre Hände finden sich, eine Szene, der Mehmert mit anrührender Wirkung viel Raum und Zeit lässt.
Mimi wendet sich zum Gehen. Wären wir in einem Theaterstück, hätte die Geschichte bereits ihr Ende gefunden. Doch nicht bei Puccini und erst recht nicht bei diesem Regisseur. Rodolfos O soave fanciulla, das mit dem Kommentar des temperamentvollen Mandla Mndebele in der Rolle Marcellos korrespondiert, geht in das erste Duett der Hauptfiguren über, das Sohn und Kim in Harmonie vereint. Io t’amo! haucht Sohn. Wenige Minuten sind vergangen, und schon haben sich beide ihrer Liebe versichert, für immer. Anders als im Original verlässt Mimi nicht die Behausung. Rodolfo zieht sie auf das Bett in der Mitte des Raumes, wogegen Mimi sich nicht sträubt. Es ist einer der wenigen Momente, in denen der Regisseur vom Textbuch abweicht. Und wirklich plausibel ist das nicht, weil Mimi anfänglich ein scheues Reh ist. Exakt dies macht Sohn deutlich. Zerbrechlich wirkt sie und melancholisch, wozu ihr Timbre vorzüglich passt.
Das zweite Bild, das auf dem wuseligen Weihnachtsmarkt im Quartier Latin spielt, ist in Dortmund die Stunde der Kostüme. An Schauwerten und Auftritten ist es mit den Straßenverkäufern, Soldaten und den spielfreudigen Kindern das bildstärkste der Oper. Rinnat Moriah zieht als Musetta in großer Robe die Augen des Publikums an. Sowohl vor dem Café Momus als auch im Dortmunder Haus. Mit dem Ausklingen ihres Walzers Quando m’en vò, den sie sinnenfroh, aber eine Spur zu dezent singt, entledigt sich Moriah ihres Oberkleids, um von dann an als Musette in bester Can-Can-Manier zu brillieren.
Für Mehmert ist das Aufeinandertreffen der Paare in dieser Szene ein Ausdruck der auf Kontrast aufbauenden Dramaturgie Puccinis und seiner Librettisten. Er sieht, wie er in seinen Notizen zur Produktion schreibt, Mimi/Rodolfo als „hohes“. Musetta/Marcello als „niederes“ Paar. Entsprechend austariert ist seine Personenregie, die den groben wie den feinen Handlungsmustern Ausdruck verleiht. Folgerichtig gibt es für Musettas reichen Liebhaber Alcindoro, bei dem am Ende die Rechnung für alle landet, wenig Mitgefühl. Hiroyuki Inoue verkörpert ihn mit leidender Geduld.
Im scharfen Gegensatz zur Szenerie vor Café Momus steht die Ausstattung des dritten Bildes, das an einer der Zollschranken am Stadtrand spielt. Es kennt ein Oben und Unten. Oben dekoriert Marcello die Wände eines Cabarets mit Bildern, um ein wenig Geld zu verdienen. Unten verdecken dunkle Wände den Eingang zu einer Vorstadtschenke. Diese Raumkonstellation hat zwar den Vorteil, dass Mimis Absicht, sich von Rodolfo zu trennen, plausibel wird. Für ihn zunächst unsichtbar hört sie ja mit an, dass ihr Geliebter Marcello berichtet, sich von ihr zu lösen. Doch die besondere Atmosphäre eines Februarabends am Pariser Stadtrand mit dem dünnen Licht des Gasthauses im Hintergrund, die Puccini mit wenigen hohen Harfentönen und Streicherquinten malt, will sich so nicht einstellen. Da gibt es plastischere Lösungen für das Raumbild.
Als Mimi den Ort verlassen will, erkennen die Liebenden, sich über ihre Gefühle nicht hinwegsetzen zu können. Sie finden in dem Duettino Vuoi que aspettiam la primavera ancor? wieder zusammen, in dem die Stimmen Sohns und Kims förmlich verschmelzen. In dieser Szene beweist der Regisseur sein Feingefühl für Personenregie. Zu Beginn des sich neu Findens stehen Sohn und Kim mit dem Rücken zueinander. Dann bewegen sie sich langsam passend zur Musik aufeinander zu, bis sie Rücken an Rücken verweilen. Die Szene wird von einer Umarmung beider beschlossen. Sie brennt sich für eine Weile in das Auge des Betrachters ein, auch wenn das Bild mit dem großartigen Quartett des „hohen“ wie des „niederen“ Paares endet, wobei Puccini auch hier mit Kontrasten figuriert.
Im vierten Bild, das wiederum in der Behausung der Anfangsszene spielt, lässt Mehmert Rodolfo in der Badewanne Zeitung lesen. Es ist kein billiger Gag, da die Möbel im kalten Winter verheizt worden sind. Übermütig kämpfen die vier Bohemiens mit Tänzen und Fechtduellen gegen die Armseligkeit ihres Lebens an. In diesen Passagen beeindrucken die Protagonisten mit spielerischer Hingabe. Als die hustende Sohn von Moriah angekündigt wird, bricht der Verismo des Librettos unversehens durch. Es ist der Punkt, an dem die Stimmung in wenigen Takten disruptiv kippt, die frivole Musetta sich zu einem empathischen Menschen wandelt. Moriah spielt diesen Umschwung glaubwürdig.
Rodolfo hilft Mimi, sich in der Badewanne auszuruhen. Nun ist es ein sehr befremdliches, aber auch realistisches Bild. Auch das Bett aus der ersten Szene ist fort. Rodolfo gibt Mimi das rosa Häubchen, was eine Brücke zum zweiten Akt schlägt. Sohn und Kim steigern sich mit lyrischer Leidenschaft in die schwelgerischen Melodielinien, mit denen Puccini die Erinnerung an die gemeinsame Zeit beschwört. Denis Velev singt Collines Abschiedsarie an seinen Mantel Vecchia zimarra, senti vorn am Bühnenrand mit Emphase, leider beeinträchtigt durch ein unnatürlichen Vibrato.
Rodolfo wird den Tod Mimis gewahr. Mehmert lässt den Tenor nicht wie im Original am Boden zusammensinken, sondern in die Nacht hinauslaufen. Ein glaubwürdiger Schluss einer Inszenierung, die die Bohème nicht diskreditiert, was in Jahrzehnten danach ein gesellschaftlicher Standard wird. Die sie in ihren unvollkommenen, aber menschlichen Lebensentwürfen ernstnimmt.
Gabriel Feltz am Pult der Dortmunder Philharmoniker bringt mit der vom Komponisten verlangten Raffinnesse der Behandlung des Orchesters die Farben der Partitur zum Leuchten, mit der Puccini die Romantik modernisiert und seinen eigenen Stil findet. Auf ihn, die Musiker wie den Opernchor, den Kinder- und Knabenchor prasselt starker Beifall hernieder. Fabio Mancini nimmt ihn für die Choreinstudierung entgegen. Das rein männliche Regieteam wird überschwänglich gefeiert. In Zeiten wie diesen, in denen manche von der Krise der Oper sprechen, ein bemerkenswerter Befund.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright: Björn Hickmann
04. September 2023 | Drucken
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