Die Liebe zu den drei Orangen Sergej Prokofjew Besuch am 14. April 2024 Premiere
Theater Bonn Opernhaus
Opéra brûlée: Im bunten Spektakel verliert sich der parodistische Charme des Komponisten
Auf Theaterstücken des Venezianers und Goldoni-Rivalen Carlo Gozzi fußen mehrere Opern. So Richard Wagners erste vollendete Oper Die Feen, Hans Werner Henzes König Hirsch, Turandot in der Vertonung durch Giacomo Puccini sowie Die Liebe zu den drei Orangen von Sergej Prokofjew. Von den neun Bühnenwerken des russischen Komponisten hat sich das skurrile Märchenspiel in einem Prolog und vier Akten seit seiner Uraufführung 1921 in den Spielplänen insbesondere der Musiktheater Westeuropas eine beachtliche Präsenz verschafft. Ein aktueller Beweis für die Beliebtheit der Oper ist nun im Theater der Bundesstadt zu erleben. Eine Neuinszenierung, die mit voller Wucht der Kraft des Spektakels vertraut, während die Metaebene des Stücks hinter dem Zauber aus Farben und Formen ein Stück weit zurückbleibt.
Das Haus am Rhein darf sich rühmen, Prokofjew eine gewisse Heimstatt zu bieten. In der Spielzeit 1983/84 bringt Intendant Jean-Claude Riber die religiös umwitterte Oper Der feurige Engel mit dem Libretto des Komponisten auf die Bühne. In den Hauptrollen: Ute Trekel-Burkhardt und Siegmund Nimsgern. 2009 zeigt Philipp Himmelmann seine verführerische Annäherung an das Stück unter Ausspielung seiner ironischen Brechungen. Jetzt begeistert mit Leo Muscato ein italienischer Komödienexperte das Publikum, der in der Chronik des Theaters der Bundesstadt mit vergnüglichen Inszenierungen von Gioacchino Rossinis La Cenerentola sowie der Opern Serse undAgrippina von Georg Friedrich Händel verzeichnet ist.
Die Liebe zu den drei Orangenist ein prominentes Beispiel für die Globalisierungsprozesse, die den Opernbetrieb im 20. Jahrhundert erfassen und durch die Erfindung des Jets forciert werden. Prokofjew, der Emigrant, der nach der Oktoberrevolution 1918 Russland verlässt, in die USA geht und dort als erster ausländischer Komponist einen Auftrag für ein Musiktheater erhält, schreibt 1919 eine Oper auf Französisch für ein amerikanisches Publikum auf Basis einer traditionellen italienischen Kunstform. Das in Zusammenarbeit mit der aus Griechenland stammenden brasilianische Sängerin Véra Janacopoulos entstandene, von dem Theaterreformer Wsewolod E. Meyerhold stark beeinflusste Werk erlebt seine Uraufführung an der Oper Chicago und von dort einen weltweiten Siegeszug.
Ein König, der sich um seinen an der Melancholie des Hoflebens erkrankten Sohn sorgt. Ein Magier und eine Hexe, die einen Streit im Kartenspiel austragen. Ein Minister, der die Ehe mit der Nichte des Königs anstrebt, um selbst Herrscher zu werden. Drei überlebensgroße Orangen in der Wüste, in denen Prinzessinnen stecken und auf Erlösung warten. Die Schauplätze und das Geschehen der Oper bieten alles, was Theaterbesucher jeden Alters zu verzaubern vermag.
Der Prinz eines fernen Königreichs, um die Handlung wenigstens in Kurzfassung Revue passieren zu lassen, laboriert an einer schweren Depression, die ihn an seinen Sessel fesselt. Alle Versuche, ihn zum Lachen zu bringen, bleiben erfolglos. Als die Hexe Fata Morgana im Konflikt mit dem Clown Truffaldino stolpert, findet der Prinz über die Schadenfreude zu seinem Lachen zurück. Die Hexe verflucht den Prinzen und gibt ihm auf, sich in drei Orangen zu verlieben. Es gelingt ihm, diese auf einer gefährlichen Reise mit Truffaldino einer Köchin zu entwenden. Am Ende finden die Prinzessin Ninetta, die zuvor in eine riesige Ratte verwandelt und vom Zauberer Tschelio zurückverwandelt wird, und der Prinz unter dem Jubel des ganzen Hofs als Paar zusammen.
Die Liebe zu den drei Orangenist in Struktur und Intention ein Bühnenstück auf zwei Ebenen. Einmal eine Märchenhandlung mit Anklängen an die Commedia dell‘Arte und den Namen ihres Personals. Zum anderen ein Theater-auf-dem-Theater-Spiel, das mit den Mitteln der Parodie eine Kontroverse um das „wahre“ Theater unter Entlarvung der Mechanismen auf der Bühne in Gang setzt. Anhänger der Tragödie, der opera buffa, des lyrischen Dramas sowie eine Gruppe von Hohlköpfen fordern im Prolog mit handgreiflicher Ausschließlichkeit das einzig ihnen gemäße Werk und greifen mitunter sogar in das Geschehen ein. Sie werden von Sonderlingen beruhigt, die sich schlussendlich mit dem Verlangen durchsetzen, die Sache mit den Orangen aufzuführen.
Muscato, vom Stück wie von den Protagonisten sichtlich euphorisiert, zieht, wie es sich für ein Märchenstück gehört, alle Register. Andrea Bellis Bühnenbild weckt Vergleiche mit der Zauberkiste spielender Kinder. Sie ist vollgestellt mit riesigen Puppen, die verschiedenen Klassikern des Musiktheaters zugeordnet sind, so etwa Donizettis Elisir d’amore. Die von Margherita Baldoni kreierten Kostüme spielen mit den Uniformen des Karnevals und Anleihen aus dem russischen Ballett. In dieser grell-bunten Welt entfaltet sich ein Kaleidoskop an Slapstick-Momenten, witzigen Effekten und immer wieder verblüffenden Metamorphosen. Auch die Ratte, in die Ninetta verwandelt ist, flitzt über den Boden.
So entsteht ein Riesenspaß, den das Publikum goutiert, der aber nicht die Vision Prokofjews und Meyerholds ausreichend zum Zuge kommen lässt. Himmelmann spricht 2009 bei seiner Bonner Inszenierung davon, die Regie dürfe das Publikum nicht mit visuellen Mätzchen überwältigen. Aber genau dies geschieht Muscato. Prokofjews Polemik gegen diverse Opernkonventionen und das Publikum, das nach ihnen blind verlangt, verblasst, verschwindet. Wo sind die szenischen Entsprechungen zu den verschiedenen Opernklischees, die der Komponist im Verein mit dem Avantgardisten Meyerhold in die Partitur streut? Zur romantischen Gefühlswelt eines Peter Tschaikowsky, eines Giuseppe Verdi? Zur Melodienfrische eines Rossini? Zur heroischen Musiksprache Wagners? Als die Tuba das Erscheinen des Ungetüms mit dem Kochlöffel ankündigt, sind die rhythmischen Schläge aus Siegfrieds Begegnung mit dem Riesen Fafner aus dem Ring des Nibelungen zu vernehmen.
Prokofjews Musik ist bunt, gespickt mit wechselnden Klangfarben und Rhythmen im Stil kommender Filmtechniken, stets in enger Korrespondenz zum Libretto. Sie folgt keiner Idee der Steigerung durch Dramatisierung, kommentiert vielmehr Begriffe und Situationen. Durch Verwendung von dissonanten und störenden Effekten zur Charakterisierung des Negativen und der Schurken im Stück, etwa der bösen Hexe, durch Verzicht auf Arien, Duette und andere Ensemblenummern ist sie weitgehend frei von der Emotionalität, die aus einem Opernbesuch ein Erlebnis macht. So entsteht der Eindruck einer Opéra brûlée, frei nach jener Spezialität, bei der die Kruste flambiert und folglich heiß ist, die eigentliche Crème hingegen kalt bleibt.
Im Beethoven Orchester Bonn unter Leitung seines Chefs Dirk Kaftan findet die Partitur der Sonderlichkeiten einen gut aufgelegten und engagierten Sachwalter. Eine Klasse für sich ist der Chor in der Tutti-Formation wie der Unterteilung in die verschiedenen Gruppen. Über Chorleiter Marco Medved schlägt nach dem Schlussvorhang der Beifall des Publikums zusammen. Der gebürtige Mailänder, der zum Opernhaus Bari wechselt, wird mit einem großen Blumenstrauß bedacht, in Anerkennung seiner Tätigkeit seit der Spielzeit 2015/16 mit mehr als 50 Chor-Einstudierungen im Bonner Haus.
Unter den 16 einzelnen Sängerdarstellern, die mehr deklamieren als „schön“ singen, ragen Uwe Stickert als Prinz mit Kindergesicht, Khatuna Mikaberidze als Prinzessin Clarisse sowie Christopher Jähnig als Leander heraus. Yannick-Muriel Noah in der Rolle der Fata Morgana und Pavel Kudinov in der Paradebassrolle der rabiaten Köchin sorgen für Furore ganz eigener Art. Mit quirligem Spiel überzeugt Tae Hwan Yun als Truffaldino. Gefällig agieren die Prinzessinnen Susanne Blattert (Linetta), Ayaka Igarashi (Nicoletta), Marie Heeschen (Ninetta). Ava Gesell ist eine Smeraldina, der man zu Recht nicht traut, Magnus Piontek ein bedauernswerter König, dessen Bass stets vitaler ist als seine Stimmung.
Der finale Jubel im voll besetzten Theater ist mächtig und anhaltend, schließt auch das Regieteam ein. Die Liebe des Publikums ist von den Orangen hin zu den Künstlern gewandert. Man kann es ja auch verstehen.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Bettina Stöß
16. April 2024 | Drucken
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