Problematische Umdeutung des Generationenkonflikts auf Kosten der Conditio humana des Meisterwerks

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Don Pasquale Gaetano Donizetti Besuch am 23. Februar 2023 Premiere am 11. Februar 2023

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Problematische Umdeutung des Generationenkonflikts auf Kosten der Conditio humana des Meisterwerks

Man verspricht sich ein Fest, wenn Gaetano Donizettis Don Pasquale gegeben wird. Die Vollendung derOpera buffa im Übergang zur Komischen Oper. Doch nicht einmal ein Fünftel der Plätze im Musiktheater im Revier ist an diesem Abend belegt. Ein Umstand, der unweigerlich atmosphärisch Folgen hat. Dabei hat der Deutsche Bühnenverein gerade erst auf der Grundlage einer Umfrage unter Theatern des Landes Erkenntnisse der Hoffnung ausgemacht. Es gebe Signale der allmählichen Wiederkehr des Publikums nach dem Abebben der Pandemie und ungeachtet der aktuellen Krisen.

Gewiss, die Leere im Gelsenkirchener Haus bei einer beliebigen Abonnementaufführung ist nicht mehr als eine Momentaufnahme. Aber auch nicht weniger. Erfreulicherweise hindert dies, soweit erkennbar, die Akteure auf der Bühne und im Graben nicht, eine galante und turbulente Opernaufführung auf die Bühne zu bringen. Leider fehlt es ihr aber an Authentizität und Plausibilität. Dies ist keine Frage der agierenden Künstler, sondern eine der Regie.

Donizettis universaler Langzeiterfolg, schon bei der Uraufführung 1843 im Pariser Théâtre-Italien umjubelt und mit dem Ruf nach Wiederholung einzelner Arien und Ensemblenummern begleitet, hat mit der Reduzierung der Handelnden auf vier Figuren in der italienischen Commedia dell’arte und ihren Prototypen seine Grundlage. Das Narrativ ist die Conditio humana, der auch humorvolle Umgang mit menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten. In dem Verstehen und Verzeihen keinesfalls ausgeschlossen sind. Der Jurist und Autor Giovanni Ruffini arbeitet unter dem Pseudonym Michele Accursi den Text der Oper Ser Marcantonio von Stefano Pavesi für Donizettis Werk um. Diese zieht 1810 in der Mailander Scala die Besucher in ihren Bann, behauptet sich über Jahre selbst gegen Giacomo Rossini. Donizetti hat im Tandem mit Ruffini einen bedeutenden Anteil an der Weiterentwicklung der Buffonerie Pavesis zum Lustspiel neuer Art.

Don Pasquale, ein wohlhabender boshafter älterer Junggeselle, will durch die Heirat einer jungen Frau seine Einsamkeit überwinden und zugleich seinem Neffen Ernesto, Liebhaber der jungen Witwe Norina, die Erbschaft abspenstig machen. Dottor Malatesta, sein Hausarzt, springt den jungen Liebenden zur Seite und fädelt eine Intrige ein. An deren Ende kann der Geizhals das inzwischen zum Ehejoch ausgeartete vermeintliche Glück wieder abschütteln und in sein Junggesellendasein zurückkehren. Das junge Paar findet zueinander, von Pasquale reich bedacht. Das Sujet vereint komische wie tragische Züge, wie sie auch aus den heiteren Stoffen vom Schlage Meistersinger, Rosenkavalier, Falstaff vertraut sind.

Die Gelsenkirchener Intendanz hat die Inszenierung der aus Budapest stammenden jungen Regisseurin Zsófia Geréb anvertraut. Auf ihrer Webseite in englischer Sprache gibt sie ihr Credo preis. Sie wolle in ihren Arbeiten ausprobieren, wie sich Theater mit Musik, mit der digitalen Welt, mit Politik, mit allem verbinden lasse, „was wichtig für mich ist“. Vom Publikum ist in dieser Confessio nicht die Rede. „Wichtig“ bei der Umsetzung des Don Pasquale ist der Geréb die Betonung emanzipatorischer Aspekte, die in der Rolle der jungen Frau mit der Doppelidentität als Norina/Sofronia per se angelegt sind. Das mag noch einigermaßen angehen, weil die Figur der Norina in der Intrige einen Entwicklungsprozess durchläuft. Weil sie sich schlussendlich noch weniger etwas vorschreiben lässt als zu Beginn. Was aber nicht angeht, ist Gerébs Verlagerung des Generationenkonflikts der Vorlage in unsere Gegenwart.

Pasquale avanciert zu einem Kind der Nachkriegszeit. Norina, quasi die Colombine der italienischen Stegreifkomödie, und Ernesto werden bei Geréb zu Angehörigen von Teilen der Bevölkerung, die von Soziologen mit den Begriffen Millennials oder Generation Y bezeichnet werden. Während den Vertreter des „Wirtschaftswunders“ der 50-er Jahre Elan, Sparsamkeit und Bewahrung von primär materiellen Werten auszeichnet, sind für die jungen Liebenden Genuss und Spaß wesentliche Triebfedern des Daseins. Sie verfolgen die Idee der Work-Life-Balance.

Für Geréb mag ein intendierter Brückenschlag zu der jungen Generation und damit – theoretisch – den potentiellen Opernliebhabern von morgen Hauptmotiv für die Transformation von Zeit, Ort und Figuren sein. Vielleicht wird sie von ihr auch schlicht als cool begriffen. Sie handelt sich dafür allerdings Ungereimtheiten und Brüche ein, vor allem in der Charakterisierung der Personen und in der Ausstattung.

Anders als im Original mit dem einheitlichen Saal im Hause Paquales spielt die Komödie in zwei Räumen, die der Bühnenbildner Ivan Ivanov als Gegenwelten konstruiert hat. Pasquale lebt in einem grau-weiß gestrichenen Salon mit Treppe zu den anderen Gemächern. Zu sehen sind exquisite Möbel und Bilder an den Wänden, darunter das Zitat eines Rothko-Gemäldes, das im Lauf der Handlung als running gag eine Sonderstellung einnimmt. Norina hat sich mit Allerweltsmöbeln vom Typ Ikea, die vermutlich aus ihrer ersten Ehe stammen, in einem bunten Zuhause eingerichtet. Sie liebt Schwarz-weiß-Filme der Stummfilmzeit die auf eine überdimensionale Leinwand projiziert werden, wofür Sebastian Schiller verantwortlich zeichnet. In diesem Ambiente, das an frühe Filme von Woody Allen erinnert, liegt sie Popcorn konsumierend auf der Couch. Ein Bild der hedonistischen Generation Y? Wohl kaum, da diese erwiesenermaßen andere Medien und anderen Content favorisiert.

Ivanov nutzt die Möglichkeiten der Gelsenkirchener Drehbühne geschickt. So kann die Regisseurin Ernesto mit einem Golfschläger, den er sich aus einem Standbild seines Onkels greift, in den abgedunkelten Raum zwischen den beiden locations schicken. Dort probt er mit Papierkügelchen Schläge, als gehe ihn das Geschehen ringsum in Wirklichkeit nichts an. Diese Szene wird ausgerechnet zur Kulisse seines Bravourstücks, des fast parodistisch gemeinten Ständchens Povero Ernesto mit der vorausgehenden einschmeichelnden Introduktion der Trompete. Der Neffe des Hausherrn ist gewiss einfach und naiv, aber gleichgültig ist er auf keinen Fall.

Don Pasquale ist bei Ruffini ein starrköpfiger Einzelgänger, aber beileibe kein Trottel wie auf der Gelsenkirchener Bühne. Die Kostümbildnerin Vanessa Vadineanu steckt ihn in einen zerschlissenen Morgenrock, unter dem die Bahamashorts verschwinden. Norina konfrontiert ihn drastisch mit seinem Alter, wobei sie die Insignien der heutigen Altenpflege – Rollstuhl, Blutdruckmesser etc. – geradezu genüsslich ins Spiel bringt. Diese Attitüde liegt ebenso quer zur Figur des Originals wie ihr Auftreten in Jeans im Garten des dritten Aufzugs. Eher passt da schon ihre pinkfarbene knallige Aufmachung nach der fingierten Eheschließung, in der sie die Ausgaben Pasquales in die Höhe und den Hausherrn fast in den Wahnsinn treibt.

Das offenkundige, gern kontextfreie Ringen um Schaueffekte zeigt sich noch einmal deutlich in der Szene im Garten des Schlussaktes, die das Finale aus Mozarts Le Nnozze di Figaro zu zitieren scheint. Unter der hochgefahrenen Bühne offenbart sich ein Kellergewölbe, in dem nicht etwa die Weinvorräte des Eigentümers aufbewahrt werden. Vielmehr verfolgen Don Pasquale und Malatesta das Geschehen verborgen hinter allerlei Requisiten, die aus dem Magazin des Hauses stammen. Ernesto tritt in einem Phantasiekostüm aus Vorzeiten auf, zu dem ihn im Hintergrund eine Gitarre und oben auf der Bühne eine Harfe begleiten. Gewiss, ein einprägsames Bild, aber der illuminierte Garten mit dem Lusthäuschen im Hintergrund aus dem Original wäre stimmiger.

Hans von Bülow, Dirigent der Uraufführungen von Tristan und Isolde sowieDie Meistersinger, spricht von einer „merkwürdigen, anbetungswürdigen Musik“, als er 1872 Donizettis Werk erlebt. „Merkwürdig“ mögen die leichte Hand des Komponisten im Umgang mit der Abfolge von Arien, Duetten, Rezitativen sowie die schnellen tänzerischen Tempi anmuten. Die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung Giuliano Bettas legt sie vom ersten Takt der Ouvertüre vor und hält sie bis zu Pasquales Einlenken Tutto dimentico, siate felice im Finale bei.

„Anbetungswürdig“ sind die mit Salonwalzern gespickten Soloarien, prominent das Bravourstück So anchio la virtù magica mit Koloraturen der Norina, das Margot Genet wie auch die ganze Partie mit ihrem strahlenden Sopran samt sicherer Höhe souverän ausgestaltet. Ferner das zungenbrecherische Duett Cheti cheti immantinente zwischen Pasquale und Malatesta sowie Tornami a dir che m’ami, das schwärmerische Duett Norina/Ernesto. Urban Malmberg ist mit unverändert sonor-angenehmem Timbre ein spielsicherer Pasquale. Der Bariton ringt allerdings um die tiefen Töne und mit dem strukturellen Handicap, dass die Partie besser wie zumeist mit einem Bass besetzt wäre.

Petro Ostapenkogewinnt der Rolle des Malatesta mit seinem burschikosen Bariton und gehörigem Spielwitz die schönsten Aspekte ab. Als eine nicht unproblematische Besetzung erweist sich der Tenor Khanyiso Gwenxane als Ernesto. Er verfügt zwar über bestes Material, neigt aber zu einem unnatürlichen Vibrato und zu spröder Intonation in der Mittellage. Von der Legato-Kultur eines Alfredo Kraus oderFranzisco Araiza einst in dieser Rolle ist er so weit entfernt wie Pasquale von den zahlreichen Kindern, die er in seinen Träumen um sich geschart sieht. Dieser Eindruck wird auch nicht durch die samtene Höhe wettgemacht, in die er im Duett mit Norina bis zur Falsettstufe hinaufklettert.

In der marginalen Rolle des fiktiven Notars, den Pasquale in seiner Blindheit nicht durchschaut, liefert Yancheng Chen eine köstliche Ministudie. Der von Alexander Eberle einstudierte Chor bewährt sich als prägender Faktor des dritten Aufzugs. Er bleibt aber beim sogenannten Dienerchor I diamanti presto presto in der Wirkung deutlich zurück.

Der lebhafte Schlussbeifall, durchsetzt mit einigen Bravi!-Rufen, bekundet die Sympathie, die diese Aufführung im Publikum errungen hat. Er kann aber nicht von einem zwiespältigen Gesamteindruck ablenken, im Saal wie eben auch in der von der Regie gewählten Umdeutung.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Sascha Kreklau

 

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