Regiekonzept der Transformation ins Heute verfehlt die „Tinta“ des immer noch unterschätzten Werks

Xl_simon_boccanegra_jung_matthias_12 © Copyright: Matthias Jung

Simone Boccanegra Giuseppe Verdi Besuch am 19. März 2023 Premiere 28. Januar 2023

Aalto Musiktheater Essen

Regiekonzept der Transformation ins Heute verfehlt die „Tinta“ des immer noch unterschätzten Werks

Zwei Jahre nach La Traviata, der Krone in der Trias der Erfolgsopern in der mittleren Phase Giuseppe Verdis, bringt der Komponist mit Simone Boccanegra im März 1857 eine neue italienische Oper heraus. Nicht ganz unerwartet reagiert das verwöhnte Publikum im venezianischen La Fenice regelrecht verstört. Hauptgründe sind die diffizile Handlung des Librettos von Francesco Maria Piave, das auf einem Stück des spanischen Autors Garcia Gutiérrez beruht, und die eigenwillige musikalische, als spröde empfundene Struktur, die die traditionelle Nummernoper weit hinter sich lässt, auf eine melodisch-opulente Gesangslinie und „Ohrwürmer“ verzichtet und die tiefen Männerstimmen in ein Zentrum der Düsternis rückt.

Der Komponist reagiert. Die Überarbeitung, für die Verdi mit Arrigo Boito seinen späteren Otello-Librettisten zu Rate zieht, nimmt mehr als zwei Jahrzehnte in Anspruch. 1881 wird die Neufassung, die mit der „Beleidigung für die Logik“ (ein damaliger Kritiker) und der „zu trostlosen Partitur“ (Verdi) ein Stück weit aufräumt, an der Mailänder Scala ein Erfolg. Er reicht aber nur punktuell über Italien hinaus. Anders als Verdis anschließende Kompositionen, Un ballo in maschera, Don Carlo, Aida erobert das Werk nicht wie diese den selbstverständlichen Rang im Weltrepertoire der Oper.

Die Neuproduktion von Simone Boccanegra am Essener Aalto Theater in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca lässt sich unter zwei Aspekten in eine Beziehung zur bisherigen Rezeptionsgeschichte des Boccanegra verstehen. In musikalischer Hinsicht wird deutlich, dass das Melodramma in drei Akten und einem Prolog mit seiner besonderen Formgebung und der Schwärze seiner orchestralen Farben zu Unrecht unterschätzt wird. Es stellt eine eigenständige Etappe auf Verdis Weg zur Vollendung dar. Unter dem strukturellen Aspekt eines angemessenen Regiekonzepts verstärkt sich einmal mehr der Eindruck, dass der Mitte des 14. Jahrhunderts in Genua spielenden Geschichte nicht mit den Mitteln des „Regietheaters“ beizukommen ist.

Der historische Boccanegra war nicht wie bei Gutiérrez und Piave/Boito ein Korsar. Er wird 1339 als Repräsentant der Plebejer und Kaufleute der Stadtrepublik als Antipode der Aristokratie zum ersten Dogen Genuas gewählt, nach fünfjähriger Amtszeit von seinen Opponenten zur Abdankung gezwungen. Zwölf Jahre später gelangt er noch einmal für sechs Jahre in das Amt, bis er der Überlieferung zufolge einem Giftanschlag erliegt. In der Verdi-Oper erfüllt sich Boccanegras Schicksal ebenfalls in Auseinandersetzungen der rivalisierenden Patrizier und Plebejer. Es wird allerdings aus dramaturgischen Gründen in eines der Lieblingssujets des Komponisten, eine Vater-Tochter-Beziehung eingebettet, wie sie insbesondere in Rigoletto und Luisa Miller ausgestaltet ist.

Der Kampf der plebejischen Protagonisten und der aristokratischen Elite um die Macht gipfelt im Konflikt des Edelmanns Jacopo Fiesco und seines Antipoden Boccanegra. Als junger Mann hat er Maria, die Tochter von Fiesco, geliebt, die von diesem festgehalten wird und stirbt. Das aus dieser Beziehung stammende Mädchen, auch Maria genannt, verschwindet. Es taucht aber 25 Jahre später wieder auf. Als Boccanegra, mittlerweile zum Dogen ernannt, für den Höfling Paolo um die Hand Marias alias Amelia Grimaldi anhält, erkennt Boccanegra in ihr seine verloren geglaubte Tochter. Sie, die den Patrizier Gabriele Adorno liebt, schlägt den Antrag mit Verweis auf ihre unsichere Herkunft aus. Der Konflikt eskaliert. Am Ende stirbt Boccanegra an dem Gift, das ihm Paolo verabreicht hat. Italien verliert einen frühen Vorkämpfer des Risorgimento, der nationalen Einheit, für die sich Verdi fünf Jahrhunderte später machtvoll einsetzt.

Von den 30 Opern, die der bedeutende Regisseur Hans Neuenfels im Zeitraum 1974 bis 2009 inszeniert, stammen acht von Verdi. Simone Boccanegra ist nicht darunter. Es hat sich möglicherweise nicht ergeben. Es kann aber auch ein Reflex der Intuition von Neuenfels auf die Komplexität des Werks gewesen sein, warum er um diese Oper eventuell einen Bogen gemacht hat. Gürbaca wagt sich an den Stoff, entzieht sich aber der Herausforderung, indem sie ihre Inszenierung in der Gegenwart spielen lässt. Sie sieht in der Geschichte einen „Politthriller, der eine der Geburtsstunden der Demokratie behandelt“. Und damit Bezüge zu aktuellen Gefährdungen der Demokratie aufweise, „die wir immer wieder selbst in Europa beobachten“.

Der Aufruhr der Straße, den die Regisseurin beim Aufstand des Volks Genuas gegen den Dogen inszeniert, zeigt aber nicht den Angriff auf den Berliner Reichstag, sondern Aufrührerische mit Wikinger-Kopfschmuck und Baseball-Schlägern auf den Stufen des Kapitols in Washington. Ist der Vater-Kind-Konflikt, lautet die naheliegende Anschlussfrage plausibler und verständlicher, weil er mit der Gesamtszene in die Gegenwart verlegt wird?

Mit der Idee der Transformation verliert die Inszenierung in ihrer Ausstattungslogik nicht nur den eigentlichen Kern der Oper. Sie wird nonchalant einem Werk nicht gerecht, das sie doch vom Anspruch des Regiehandwerks her gesehen ins rechte Bild rücken möchte. Gewiss ist noch zu verschmerzen, dass das Aalto-Publikum den Palast der Grimaldis und seinen exquisiten Garten nicht zu sehen bekommt. Die für jede Verdi-Oper charakteristische Musikfarbe, die tinta, ist bei Simone Boccanegra das Meer, seine Stimmung, seine Mystik, der von Wasser und Wellen erzeugte maritime Klang.

Begann schon die Erstfassung mit einer tonmalerischen Beschreibung der Wellen des Meeres, durchzieht der Sound des Meeres nun die ganze Komposition. Das Preludio, die neu verfasste Einleitung erzeugt einen Klangteppich im Stil der Wogen, auf dem sich das Schicksal des Dogen und Vaters erfüllt. Es sind die Geräusche der See, die Simone durch das offene Fenster in seiner Sterbestunde gelten. Lautmalerisch, als wolle sich das Meer von seinem Helden, dem „Korsaren“, verabschieden.

Die maritime tinta in ein Bühnenbild umzusetzen, könnte eine der schönsten Aufgaben von Ausstattung sein. Klaus Grünberg, für Bühne und Licht zuständig, verfehlt sie zur Gänze. Die Protagonisten sind in Räumen unterwegs, die an das Innere von Wohnmobilen erinnern. Die Möbel könnten aus einem Billigkaufhaus stammen. Die Kostüme von Silke Willrett verbreiten die Anmutung, als seien sie beim Schlussverkauf eines Warenhauses in aller Eile zusammengerafft worden. Die Sänger der Hauptpartien agieren in willkürlich geschneiderten Monturen. Einige könnten gerade vom Campingplatz hergeeilt, andere auf dem Weg zu einer Cocktail-Party sein. Im schlichten Anthrazit absolviert Amelia/Maria ihre Partie. Wie ausstaffiert für einen Schützenball in der Provinz wirken die Choristen. So erreicht jeder Einzelne von ihnen, selten genug, ein individuelles Eigenleben. Ideologisch könnte das Ausstattungskonzept als ein Gegenprogramm zur „formierten Gesellschaft“ verstanden werden, um ein Schlagwort aus den 1960er Jahren in Erinnerung zu rufen. Die Masse, hier die Plebejer Genuas, ist wankelmütig und, wie Simone erfahren muss, unberechenbar.

Verdi bekennt in einem Brief, er liebe seinen Boccanegra wie ein buckliges Kind. Giuseppe Finzi lässt die Essener Philharmoniker die Eigenart der Partitur geradezu fürsorglich ausspielen. Die gewaltigen Klangmassen, getrieben von Posaune und Pauke, gesteigert vom Chor (Einstudierung: Klaas-Jan de Groot), erreichen in den Tutti-Passagen die Gewalt eines Gewitters. Nicht immer gelingt die Balance zu den lyrischen Passagen, denen die beseelte Klarinette mehrfach eine gefühlvolle Introduktion schenkt.

Es ist ein Kuriosum dieser Aufführung, dass die hohen Stimmen von Amelia und Gabriele Adorno einen stärkeren Eindruck erzeugen als die von Verdi favorisierten tiefen Männerstimmen. Jessica Muirhead ist mit ihrem kräftigen höhensicheren Sopran eine Amelia/Maria, die aus dem Schatten der angepassten Frau ihrer Epoche heraustritt. Der Tenor Carlos Cardoso verleiht Gabriele mit seiner silbrig schimmernder Stimme die rollengerechte Kontur des stürmischen jungen Mannes und Verliebten.

Der Bariton Dimitris Tiliakos ist im wuchtigen Parlando und in der ariosen Deklamation ein nuancenreicher Titelheld, charismatisch im politischen Amt, verletzlich privat, als liebender Vater. Unter die Haut geht das Terzetto Perdon, perdono, das er mit Amelia und Gabriele zu einem Geheimbund ausgestaltet. Die Widersacher des Dogen, Almas Svilpa als Fiesco, Heiko Trinsinger als Schurke Paolo und Andrei Nicoara als Pietro, Handlanger des Paolo und Anführer der Volkspartei, bewegen sich sicher auf der vokalen Grundlinie Verdis, auch wenn es letztlich an der ultimativen Grundierung der Schwärze fehlt. Zum veritablen Schauerstück wird Ecco la spada, die Szene, in der Paolo auf Geheiß des Dogen einen Fluch aussprechen muss, der letztlich ihm selbst gilt. Youngjune Lee legt als Hauptmann der Bogenschützen einen blitzsauberen tenoralen Auftritt hin.

In der gut besuchten Abonnementsvorstellung ist das Regieteam nicht präsent. So feiert das Publikum alle Mitwirkenden im Graben und auf der Bühne einhellig mit anhaltendem Applaus und etlichen Bravi!-Rufen. Vielleicht lässt sich diese Anteilnahme als Vorschlusslorbeeren einer künftig stärkeren Beachtung durch die Musiktheater werten. Es wird sich zeigen.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Matthias Jung

 

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