Sechs Tenöre im Kampf gegen einen Sopran: Fulminanter Festival-Auftakt im Schwarzwald

Xl_opera_online_20220719_foto_armida3 © Krzysztof Kalinowski

Gioachino Rossini Armida Besuch am 15. Juli 2022 (Premiere am 3. Juli 2022 in Krakau)

Sechs Tenöre im Kampf gegen einen Sopran: Fulminanter Festival-Auftakt im Schwarzwald

Rossini in Wildbad Trinkhalle in Bad Wildbad

Gioachino Rossini nimmt im Sommer 1856 Bäder in Bad Wildbad im Nordschwarzwald. Erquickt reist der von ganz Europa bewunderte Überwinder der damals erstarrten Form der italienischen Oper nach einigen Wochen weiter durch deutsche Lande. In Gestalt des Festivals Rossini in Wildbad wirkt die Begebenheit als eine Art posthumes Geschenk des Schöpfers von 39 Kompositionen für das Musiktheater weiter. Zum Segen der Gemeinde und ihrer Tourismuswirtschaft sowie von Belcanto-Afficionados aus ganz Deutschland und benachbarten Ländern.

166 Jahre später nehmen es zum Auftakt von Wildbad 2022 gleich sechs Tenöre mit der Magierin Armida in Rossinis gleichnamiger Seria auf der Bühne der Wildbader Trinkhalle, der Hauptspielstätte des Festivals, auf. Im dritten Sommer unter dem Vorzeichen der Corona-Pandemie ein Belcanto-Festival mit einer konzertanten Aufführung des Dramma per musica von 1817 zu eröffnen, ist ein Ausrufungszeichen und ein Bekenntnis. Das gerade einmal 11.000 Einwohner zählende Heilbad an der Enz ist und bleibt eine sichere Adresse für Belcanto-Kompetenz und -Entdeckungen. Pavol Breslik, Michael Spyres und Patrick Kabongo, um nur einige shooting stars der vergangenen 20 Jahren zu nennen, führen Rossini in Wildbad unter den Orten auf, an denen ihre Laufbahn begann. Allein 14 Rollen sind in den drei Opern mit Tenören besetzt, die das Kernstück von Wildbad ´22 ausmachen. Darunter Arrivierte und junge Talente, von denen – wer weiß das schon – in eigen Jahren zu reden sein wird.

Bis zu sieben Tenören – je nach Besetzung fünf oder wie jetzt in Wildbad sechs - „verbraucht“ Rossinis Dreiakter auf ein Libretto von Giovanni Federico Schmidt nach Torquato Tassos Kreuzfahrer-Stück Gerusalemme liberata von 1574. Ein wahres Spektakel, das das Publikum anlässlich der Wiedereröffnung des Teatro San Carlo in Neapel begeistert. Wie das Stück Tassos macht der Opernstoff Furore auf Europas Bühnen. Vor Rossini vertonen den Kampf der christlichen Ritter gegen die Zauberin Armida Jean-Baptiste Lully und Christoph Willibald Gluck in Frankreich, ferner Nicolò Jommelli in Italien, damals auch schon für San Carlo. Unter dem Titel Rinaldo lassen Joseph Haydn und Georg Friedrich Händel die hochromantische Geschichte auferstehen.

Rossinis Pfad zu Armida ist ein Weg voller Hindernisse und Widerstände. Der 25-jährige, der drei seiner Opera seria für Neapel schreibt, darunter zwei Jahre zuvor Elisabetta regina d’Inghliterra, muss vom Impresario des San Carlo, Domenico Barbaja, praktisch gezwungen werden, die Partitur in Angriff zu nehmen. Dem Komponisten sind diabolische und exzentrische Sujets wie in Armida eher zuwider. Er bevorzugt leichte Themen mit Esprit und einer gewissen Natürlichkeit, was er ein Jahr zuvor mit Il Barbiere di Siviglia glanzvoll unter Beweis stellt. Immerhin faszinieren ihn die konträren Stimmungskonstellationen des Stoffes. Hier die offene helle Welt der Ritter, dort die düstere von Wolken und Unheil verhangene Welt der Zauberin.

Doch nicht nur die Überredungskünste Barbajas versöhnen den Komponisten mit dem Stoff. Rossini, mit der spanischen Sopranistin Isabella Colbran in einer künstlerisch wie erotisch brisanten Beziehung liiert, sieht die große Chance, die Rolle der Armida, wohl die erste femme fatale des Musiktheaters, auf die stimmlichen Eigenarten der Primadonna Neapels auszurichten. Plakativ erkennbar wird dies spätestens in der vorletzten Szene wie im Finale, wenn die Bühne der Zauberin allein gehört und sich allenfalls der Chor zu ihr gesellen darf.

Die Belagerung Jerusalems 1099 durch das Kreuzfahrerheer unter dem Kommando ihres obersten Heerführers Goffredo gibt den Rahmen der Handlung ab. Armida, Verwandte von Idraote, des Königs von Damaskus, versucht mit ihren Zauberkünsten, die Angreifer zu schwächen und in ihren Zaubergarten zu locken. Es gelingt ihr, ihren früheren Geliebten Rinaldo, einen der Anführer, in ihrem Lustschloss gefangen zu halten. Der Ritter Gernando fordert Rinaldo zum Duell und wird von diesem im Kampf getötet. Goffredo verurteilt Rinaldo zum Verlust einer Hand, begnadigt ihn indes später und beauftragt die Ritter Ubaldo und Carlo, ihn ausfindig zu machen. Mit Hilfe eines Zauberstabs schaffen sie es, Rinaldo von seiner Besessenheit zu befreien und in das Lager der Kreuzfahrer zurückzubringen. Armida, von den Geistern der Rache wie der Liebe bedrängt, steigt mit einem von Drachen gezogenen Wagen in die Lüfte.

In der Rolle der Armida, die zumeist an den Interpretinnen Maria Callas, Cecilia Gasdia und Renée Fleming gemessen wird, ist die Sopranistin Ruth Iniesta eine Offenbarung. Schon mit ihrem Einstieg im Quartett Sventurata! Or che mi resta mit Goffredo, Eustazio und Idraote macht sie unüberhörbar deutlich, wer in den nächsten gut drei Stunden (bei einer Pause) die Szenerie zu beherrschen gedenkt. Iniesta, kürzlich Norina in Don Pasquale an der Wiener Staatsoper, ist stimmlich wie darstellerisch die legendäre Zauberin, der die Paladine vor den Toren Jerusalems reihenweise verfallen. Ihr Sopran meistert alle Tücken und Sprünge, die Rossini einst seiner Primadonna abverlangte. Die Gesangslinien folgen dem hinreißenden Schmelz der Partitur. Die Koloraturen sprudeln mit volltönender Pracht, als wollten sie der nahebei fließenden Enz Konkurrenz machen.

In den drei Duetten, die Rossini ihr im Liebestaumel mit Rinaldo schenkt, stellt sie die Ausdrucksvielfalt ihrer Stimme bravourös unter Beweis. In Amor, possente nome, dem ersten dieser Duette, präsentiert sie sich mit wuchtiger Präsenz als Herrscherin, die keinen Widerspruch duldet. In Dove son io? zum begleitenden Solo-Cello zeigt sie ihre von Sehnsucht erfüllte Seite, die mit erotischer Ausstrahlung korrespondiert. In Soavi catene, dem dritten Duett auf den Flügeln einer Solo-Violine, schließlich gibt sich Iniesta mit ihrem Partner dem puren Wohlklang hin. Belcanto vom Feinsten!

Dieses Etikett gebührt gewiss auch Michele Angelini in der Partie des Rinaldo, in die er nicht allein seinen höhensicheren und silbrig-verführerischen Tenor einbringt, sondern auch seine gesamte Physis. Wie ein Stabhochspringer windet sich Angelini, als Dorvil in dem Buffa-Einakter La scala di seta bei Wildbad ´21 Stimme des Abends, im Rhythmus der aufsteigenden Noten in die Höhe. Dies soll wohl Anspruch und Rang des Ritters gleichermaßen unterstreichen. Frenetischen Jubel des Publikums löst sein Part im Terzett der Tenöre In quale aspetto imbelle mit den Kreuzrittern Ubaldo und Carlo aus. César Arrieta gibt Ubaldo mit Leidenschaft, Chuan Wang den Carlo mit großer Empathie.

Rossini hat Rinaldo kurioserweise keine eigene Arie zugestanden. Diese, die einzige in der Oper, ist dem Kreuzritter Gernando mit Non soffrirò l'offesa vorbehalten. Patrick Kabongo, seit Jahren einer der Favoriten des Wildbadener Publikums, lässt dabei tief in seine von Rachegelüsten beherrschte Seele schauen. Unter Belcanto-Aspekten ist es natürlich ein Jammer, dass mit ihm eine solch begnadete Stimme so früh sterben und von der Bühne muss. So geht das erste Finale Se pari agli accenti mit den typischen Girlanden und Rouladen Rossinis zwar glanzvoll, aber ohne ihn über die Bühne.

Die Kunst der Besetzung von Armida besteht darin, mit den Tenorrollen grundverschiedene Typen und Stimmfarben aufzubieten, um ein Übermaß an Homogenität zu vermeiden. In dem Goffredo von Moisés Marin existiert praktisch ein Gegenpol zu Angelini und Kapongo. Marin verkörpert den Repräsentanten der Staatsräson mit disziplinierter Haltung und vokaler Souveränität. Seinem Bruder Eustazio verleiht Manuel Amati, Stipendiat der Akademie BelCanto, Format. Shi Zong ist mit schwarz grundiertem Bass ein beeindruckender Astarotte, der im Verein mit dem Chor der Dämonen Alla voce d’Armida possente die Atmosphäre der Grauen verbreitenden Furien, unterlegt mit robustem Blech, packend schildert.

Mit José Miguel Pérez-Sierra am Pult bestätigt das Philharmonische Orchester Krakau, auch bei der Premiere der Produktion beim Krakauer Royal Opera Festival am 3. Juli im Graben, seine formidable Rossini-Kompetenz. Mit Vehemenz und Charme verzaubert es das Publikum. Das Ballett im zweiten Akt, Rossinis erste Übung in dieser Stilrichtung, quittiert es mit langem Jubel. Dieser gilt offensichtlich insbesondere den Instrumentalisten in den Solo-Sequenzen von Cello, Horn, Flöte, Violine und Harfe, die die Stimmung der Zauberinsel aufscheinen lassen und noch einmal den Glanz des Barocks beschwören. In Glanzform präsentiert sich der von Marcin Wrobel einstudierte Philharmonische Chor Krakau. Er verhilft den Nymphen und Furien des Dramas zu einer Lebendigkeit, als hätten diese sich gerade erst in der Rossini-Therme am Ort erholt.

Die Eröffnung von Wildbad ´22 wird als ein bombastisches Spektakel in Erinnerung bleiben, durchaus im positiven Sinne. Laut, grell, aber mitreißend. Der vor allem in den vorderen Reihen als überdehnt empfundene Sound mag zu einem gewissen Grad unvermeidbar sein, weil er mit der strukturellen Diskrepanz zwischen dem Format der Bühne und den Raumverhältnissen der Trinkhalle zu tun haben dürfte. Wie auch immer – das Publikum in der fast ausverkauften Spielstätte feiert alle Mitwirkenden mit frenetischem Beifall, herzlich und lang anhaltend. Ein starker Einstieg in ein Festival, das Vieles verspricht.

Dr. Ralf Siepmann

© Krzysztof Kalinowski

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