Senta im Multiplex packendes, dramaturgisch angreifbares Schauerstück der verletzlichen Seele

Xl_3581_hollaender_16_foto_hans_joerg_michel__002_ © Foto Copyright Hans Jörg Michel

Richard Wagner Der fliegende Holländer Besuch am 2. Oktober 2022 (Premiere)

Deutsche Oper am Rhein Theater Duisburg

Senta im Multiplex: Musikalisch packendes, dramaturgisch angreifbares Schauerstück der verletzlichen Seele

Ein kleinerer Saal mutmaßlich in einem Multiplexkino einer mittleren deutschen Stadt. Junge Leute lümmeln sich in diversen Stuhlreihen, bewerfen einander mit Popcorn, haben sichtlich Spaß. Ganz vorn ein junges Mädchen mit leuchtend roten Haaren, in Begleitung. Anders als ihre Community verfolgt sie das Geschehen auf der Leinwand mit erkennbarer Aufmerksamkeit. Gegeben wird Der fliegende Holländer, ein Film mit packenden Bildern von Segelschiffen, die gegen den Sturm ankämpfen, Männern, die Robben auf Eisplatten erschießen, und Opfern ihres Berufs, die in der See bestattet werden (Videodesign Alexander Sivaev). In späteren Szenen am selben Schauplatz wird das Mädchen älter. Im Kinoprogramm läuft weiterhin der Film über das Schicksal dieses norwegischen Schiffseigners und jener in ihn, die Filmfigur, vernarrten jungen Frau. Sie ist wild entschlossen, ihn bis zum Tod zu lieben und so zu erlösen.

Mit dieser Transformation im Multimediastil offenbart Vasily Barkhatov, der Regisseur der Neuproduktion von Richard Wagners romantischer Oper Der fliegende Holländer im Duisburger Haus der Deutschen Oper am Rhein deutlich, in welcher Gesellschaft seine Sicht auf das Stück spielt: In der unseren mit ihrer teils einnehmenden, teils abstoßenden Provinzialität. Das Kino verortet Barkhatov in seiner Inszenierung als den Ort, an den sich die vom Erlösungswahn erfasste Senta in ihrer Realitätsflucht zurückziehen kann. Als den Ort, an dem man einen alten Film immer wieder unverändert erleben und sich so ein Stück Beständigkeit in einer Welt bewahren kann, in der der unangepasste Mensch leicht zum Außenseiter wird. Der Holländer 179 Jahre nach der Dresdener Uraufführung als Schauerstück der verletzlichen Seele.

Der Kunstgriff, die Holländer-Sage als Psychodrama der Tochter des Schiffskapitäns zu deuten, ist nicht neu. 1978 zeigt Harry Kupfer bei den Bayreuther Festspielen die Senta der Lisbeth Balslev als Angsttraum einer narzisstischen neurotischen jungen Frau, der er konsequent keinerlei Nähe mit dem Holländer des Simon Estes schenkt. Neu hingegen ist Barkhatovs Idee, die Szenerie in die Alltäglichkeit unserer Gegenwart zu transformieren, in der Mädchen wie Senta ihre Träume in den virtuellen Welten von Instagram, TikTok und Co. ausleben. Dieser Ansatz hilft zwar nicht sonderlich, Wagners Verarbeitung von Erzählungen Heinrich Heines und Wilhelm Hauffs sowie eigener Erlebnisse auf stürmischer See per se besser zu verstehen. Er könnte aber den Erfahrungen und Sichtweisen des heutigen Publikums nahekommen. Im Idealfall einer jüngeren Besucherschicht, auf die das Musiktheater in Zukunft dringend angewiesen ist.

Sein Konzept der Transformation hält der Regisseur mit großer Stringenz durch. Der zweite und der dritte Aufzug spielen in der Mitte der Stadt, auf einem zentralen Platz, der direkt neben dem Kino liegen könnte. Stores, darunter ein Kebab-Verkaufsstand, begrenzen den Hintergrund. Ein Karussell ist aufgebaut. Eine Wippe bietet Kindern Spaß. Ein Automat, zu dem es auch Senta zieht, spuckt ein Stofftier aus, wenn es mit dem Greifarm getroffen ist. Seitlich tauscht sich eine Schwangerengruppe aus. In dieser pittoresken Ausstattung von Zinovy Margolin mit den Kostümen von Olga Shaishmelashvili rennt Senta gegen all das an, was der Erfüllung ihres Traums entgegensteht. Hier agieren in einer Sequenz die Anhänger des Fußballclubs der Stadt in Fanmonturen, wozu auf einem Screen im hinteren Teil der Bühne Bilder aus der TV-Übertragung der aktuellen Partie ihres Vereins laufen. Multimedia genug? Keineswegs. Statisten tragen einen LED-Fernseher herein, auf dem die Holländer-Geschichte als Telenovela gezeigt wird, mit der mythischen Gestalt als schmachtendem Kinohelden.

Originell ist der ironische, auch belustigende Einfall Barkhatovs zu Beginn des zweiten Aufzugs. Auf dem Screen erscheint der Text eines fiktiven Schreibens Dalands an den „Herrn Kammerschauspieler“, den Darsteller des "fliegenden Holländers" mit der Bitte, er möge doch daran mitwirken, dass seine Tochter die Desillusionierung ihres Traums nun auch in der Realität erlebe. Was von nun an mit dem Übergang des fortissimo erklingenden Zitats aus dem Lied des Steuermanns zum Thema des Spinnliedes folgt, ist programmiert. Umschlossen von Wagners Klangbildern, die eh schon eine Art Filmmusik bedeuten.

Barkhatov nimmt für sein Konzept eine Reihe von handwerklichen Fehlern in Kauf. Als der Holländer erwartungsfroh auf Daland eindringt, möglichst rasch dessen Tochter sehen zu dürfen, schwirrt diese bereits eine ganze Zeitlang um ihn. Dies ist aber laut Text der Wagner-Dichtung gar nicht möglich, weil sich der Holländer mit seinem Schiff an der Küste Norwegens aufhält, Senta hingegen im Hause Dalands. Als im Finale der Oper zum Orchesternachspiel mit Erlösungsmotiv Holländer und Senta bei Wagner „beide in verklärter Haltung“ dem Meer entsteigen, also eins werden in metaphysischer Vereinigung, sieht das Duisburger Publikum lediglich eine Projektion von Senta. Jetzt ist sie ganz allein in ihrem Kino, deutlich gealtert, in den Pelzmantel des Holländers eingehüllt.

Der Regisseur bekennt in den Programminformationen seine Faszination für „die aufrichtige, pure Romantik“ der Liebe Sentas. Aber rechtfertigt dies den dramaturgischen Eingriff in das Werk? Und die Irritation, milde ausgedrückt, eines Besuchers, der seinen ersten Fliegenden Holländer authentisch erleben möchte? Wie schon jüngst beim Essener Tannhäuser in der Regie von Paul-Georg Dittrich zu beobachten, läuft auch Barkhatovs Inszenierung Gefahr, musikalisch gerade geschaffene expressive Seelenräume durch willkürliche Personenauftritte wieder zu schmälern. Auf hohem Felsen lag ich träumend, singt Erik in der Auseinandersetzung mit Senta, in der er seine Angst um seine Verlobte und das gemeinsame Glück gesteht. In diesen hoch emotionalen Zwiegesang platzen Passanten, durchmessen den Raum, um ihn danach wieder zu verlassen. Warum?

Die Sängerriege wartet mit durchweg erfahrenen, Wagner-affinen Besetzungen auf. Ein Gewinn der Aufführung ist der akkurat intonierende und erfreulich textverständliche Daland von Hans-Peter König, dessen stimmliche Kontur vorzüglich zum Profil der Rolle passt. James Rutherford ist ein wuchtiger, in seinem Fellmantel enorm präsenter, im Spiel anrührender Holländer, der sich in der besonderen Raumakustik des Duisburger Theaters mit ihrer diffizilen Balance zwischen Bühne und Graben zu behaupten weiß. Deutliche Abstriche sind allerdings bei der Senta Gabriela Scherers und dem Erik des Norbert Ernst zu machen, der als fliegender Buchhändler Reb Alter in Masel Tov von Mieczyslaw Weinberg in Duisburg noch in bester Erinnerung ist. Sie suchen ihr Heil auf der durchkomponierten Strecke von 135 Minuten in einem Vibrato der Tonhöhe, das mit zunehmender Spieldauer unangenehm wirkt.

David Fischer gibt dem Steuermann mit seinem höhensicheren lyrischen Tenor ein respektables Format. Die Mezzosopranistin Susan Maclean, zuletzt Düsseldorfs Erda im Rheingold, ist eine energische, phasenweise rabiate Mary, die aber erkennen muss, gegen Sentas Phantasien nichts ausrichten zu können. Der von Patrick Francis Chestnut einstudierte Chor in Gestalt der Matrosen zu Lande wie auf dem Geisterschiff sowie der Mädchen und Frauen im Ort überzeugt durch seine famose vokale und darstellerische Qualität.

Mit Patrick Lange am Pult, der nach seiner Zeit als GMD des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden sein Hausdebüt an der Rheinoper gibt, steigern sich die Duisburger Philharmoniker ungeachtet einiger Ungenauigkeiten, etwa beim Horn, immens. Leider lassen sie sich in den Tutti-Passagen häufig zu einer überbordenden Lautstärke antreiben. Nach dem äußerst robusten Einstieg mit der zur dämonischen Meeressinfonie gesteigerten Ouvertüre zaubern sie große Momente herbei, speziell in den fein ziselierten Übergängen, mit denen Wagner die Atmosphäre der wechselnden Schauplätze charakterisiert.

Das Publikum im fast ausverkauften Haus nimmt die jüngste Ausgabe in der langen Liste der Holländer-Produktionen der Rheinoper mit anhaltendem Jubel auf, bei partiell gedämpfter Resonanz für das Regieteam. Es feiert ganz besonders die Wagner-Raffinesse Langes und der Philharmoniker sowie den Chor.

Sechs weitere Aufführungen bis Mitte November weist der Spielplan aus. Klipp und Sturm – He! sind vorbei! He!, singen die Matrosen mit Blick auf das geheimnisvolle Schiff. Vielleicht trägt dieser Holländer dazu bei, die aktuelle Zurückhaltung in Teilen des Opernpublikums zumindest in Duisburg ein Stück ins Positive zu wandeln. Vielleicht.

Dr. Ralf Siepmann

Foto Copyright Hans Jörg Michel

 

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