Spektakuläres Storytelling: Inszenierung des russischen Regisseurs gegen den Strich begeistert das Publikum

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Eugen Onegin Pjotr I. Tschaikowskij Besuch am 3. März 2024 Premiere

Theater Bonn Opernhaus

Spektakuläres Storytelling: Inszenierung des russischen Regisseurs gegen den Strich begeistert das Publikum

Eugen Onegin, Pjotr I. Tschaikowskijs Lyrische Szenen nach Alexander Puschkins Versroman, avanciert nach der Uraufführung 1879 in Moskau zur russischen Nationaloper. Zum Monument scheinbar zeitloser Werte, sprachlich geronnen im Stereotyp der „Volksseele“. Die Aufführungstradition am Moskauer Bolschoi-Theater mit ihrer idyllischen Verklärung des Landlebens und der Inszenierung des Pomps in den Palästen des russischen Großbürgertums ist hierfür ein beredter Zeuge. In Bonn ist gegenwärtig zum zweiten Mal zu besichtigen, wie es – ausgerechnet oder gerade – ein russischer Regisseur anstellt, dem Stück innovativ zu begegnen, ohne den Geist der Tragödie einer nebulösen „Modernisierung“ zu opfern.

Die erste Onegin-Inszenierung „gegen den Strich“ an der Bonner Oper stammt von Juri Ljubimow. Der Begründer des Taganka-Theaters bringt sie in den 1990-er Jahren mit der Ästhetik von Scherenschnitten und Lochscheiben auf die Bühne. Nun zeigt der aus Moskau stammende Vasily Barkhatov unter Weiterentwicklung der Inszenierung, die er zuvor in Stockholm und in Wiesbaden herausbringt, eine Sicht auf das Stück, die sich der Erzählkunst auf dem Theater und der dynamischen Personenführung bei Aufwertung des Chores verpflichtet weiß. Die sich souverän zwischen den Polen der Plüschästhetik feudaler Bälle und der Transformation in beliebige Businesswelten von heute zu bewegen versteht.

Die eine Seite des Stücks sind die komplexen Beziehungen von Heißspornen um die 20, des Dichters Lenskij und des blasierten Dandys Eugen Onegin, einerseits und die von Mädchenfrauen andererseits, die wie Olga einen Lebens- und wie Tatjana einen Bildungshunger entwickeln. Die gesellschaftskritischen Spitzen gegen die Zustände einer Gesellschaft im aufkeimenden Liberalismus sind die andere, jedoch eher verdeckte Seite des Werks. Gewiss, mit Tatjana profilieren Puschkin und Tschaikowskij den Typus der modernen Frau. In klassischen Inszenierungen wird man nach Spuren dieses geistigen Überbaus zumeist mit der Lupe suchen müssen.

In Bonn rückt Barkhatov mit seinem russischen Inszenierungsteam (Zinovy Margolin/Bühne, Olga Shaishmelashvili/Kostüme) die historisch-politische Dimension des Dramas zumindest ansatzweise ins Bewusstsein. Mit Bildern, die über die Schau des bloßen Leidens einer Klasse hinausreichen, die quer liegen zur Ausstattungstradition. Mit einer Typisierung der Protagonisten, die ihre und ihres Zeitalters Ausweglosigkeit neu auslotet. Was am Ende bleibt, ist die bedrückende Ödnis eines Wartesaals in einem Bahnhof mit Reisenden, die hektisch Koffer von einem Bahnsteig zum anderen tragen. Hier gibt es nur noch Abschiede, keine festen Orte mehr, geschweige so etwas wie Heimat. Nichts weniger als eine ganze Ära steht auf der Kippe, die Hoffnung eines ganzen Zeitalters in der Schrägen.

Diese Schräge aus Holzplanken gibt es auf der Bühne des Bonner Hauses auch tatsächlich. Von links oben nach rechts unten verläuft sie, um im ersten und zweiten Akt wechselnde Schauplätze für allerlei Verweilen und Treiben zu schaffen. Nach der Unterhaltung, die die vornehme, aber verarmte Witwe Larina auf ihrem Landgut mit ihren beiden Töchtern sowie der alten Amme Filipjewna führt, verschanzen sich Tatjana und Olga gleichsam unter dem Balken. Ein Bild für das Oben und Unten in dieser Familie.

Auf der Schrägen trifft sich die Dorfjugend alias der Chor des Theaters zu allerlei Spaß. Der Dorfgesellschaft mit Mützen aus Bärenfell und Pelzmänteln dient sie als willkommene Piste und Eisbahn zum winterlichen Vergnügen. Da sausen die jungen Leute auf Kufen oder in ihren Schlitten die Schräge hinab, fliegen die Schneebälle. Die bekommt auch Onegin ab, woraus abzulesen ist, was man im Dorf von ihm hält. Bewegung, nicht Stillstand ist die Devise dieser Regiearbeit. Mit einem Fahrrad umkurvt Olga ihren Lenskij, während dieser mit dem Arioso Ja, ich lieb‘ Sie, Olga seine schwärmerischen Gefühle verrät.

In Bewegung sind die Personen auch im Schlussbild der Bahnhofshalle. Reisende hasten mit ihrem Gepäck durch den Raum, in dessen Deckenhöhe eine übergroße Uhr das Auge des Zuschauers magisch anzieht. Selbst für den Fürsten Gremin und Tatjana gibt es kein Ankommen. Menschen ohne inneren Fixpunkt. Die Wirklichkeit hinter der Poesie des Romantikers Puschkin? Vielleicht eine Anspielung auf die gegenwärtige russische Gesellschaft, in der das nackte Überleben für die, die nicht das Regime unterstützen oder gleichgültig sind, an die Stelle des Erlebens getreten ist?

Barkhatov versteht sich auf einen Bilderbogen mit rasch wechselnden Einfällen. Flüchtige Gesten treiben ein spektakuläres Storytelling voran. Wie Onegin im ersten Akt Tatjana kurz die Hand tätschelt, um zu unterstreichen, dass er nur brüderliche Liebe für sie empfinde und eine Ehe schlicht nicht in Frage komme, sagt alles über seinen Charakter. Im Finale gesteht Tatjana Onegin in einer merkwürdig unterkühlten Szene Rücken an Rücken ihre immer noch bestehende Liebe und weist ihn dennoch in Loyalität zu ihrem Gatten ab. In dieser Szene wartet Gremin am Gleis im Hintergrund des Bahnhofs auf das Ende dieser Unterredung, um die Reise fortzusetzen, wobei er nur an seiner glimmenden Zigarre und seinem Hut erkennbar ist. Ein Moment, der unter die Haut geht.

Einen neuen Akzent liefert Barkthatovs Bonner Regie im Vergleich mit seiner Wiesbadener Inszenierung in der Duellszene im Schlussbild des zweiten Aufzugs. Die Meute drängt Lenskij noch vor der Konfrontation mit Onegin von der Schräge in einen tiefer gelegenen Teich, in dem er ertrinkt und aus dem er Minuten später herausgezogen wird, um wie eine zu Eis gefrorene Leiche auf den Holzplanken liegen zu bleiben. Hier erweist der Regisseur Librettist wie Komponist einen Bärendienst. Ist doch das klassische Duell mit Degen oder Pistole der dramaturgisch plausible Ausdruck der Konventionen einer Gesellschaft, die für eine Kränkung eines Mannes von Stolz und Ehre lediglich eine „männlich-heroische“ Lösung vorsieht. Nicht die Versöhnung, um die die Kontrahenten zuvor noch ringen.

Die falsche Umwidmung der Szene raubt dem Verständnis der männlichen Protagonisten die Grundlage. Man versichere sich bei den großen Dramatikern des Theaters im 19. Jahrhundert. Auch gern bei Tschaikowskijs Pique Dame mit dem Libretto seines jüngeren Bruders Modest.

Unter der musikalischen Leitung von Hermes Helfricht entfacht das vorzüglich temperierte Beethoven Orchester Bonn einen lyrischen Klangteppich, der von Szene zu Szene durch einzelne Solomomente – Klarinette, Oboe, Cello – seine emotional packende Färbung erfährt An zweiter Stelle ist der Chor zu nennen, der von Barkhatovs Erzählkunst profitiert und in der von Marco Medved vorzüglich einstudierten Performance glänzt. Sei es in der Tutti-Variante, sei es in den geteilten Formationen des Frauen- und des Männerchores.

Zwar ist die Originalsprache in slawischen Opern heute Standard, doch soll betont werden, wie tief sich die Sängerdarsteller, insbesondere die Interpretinnen der Frauenrollen in Puschkins Lyrik hineinstudiert haben. Anna Princeva gelingen in der scheinbar unendlichen Briefszene der Tatjana Und sei’s mein Untergang große Momente, die sie aber hernach nicht mehr zu bestätigen weiß. Charlotte Quadt gibt der jungen Olga eine entzückende spielerische Note. Als Gutsbesitzerin Larina strahlt Eva Vogel die Würde wie die Melancholie der Frau aus, die mit den Rückschlägen ihres Lebens fertig werden muss. Rena Kleifeld wird der Rolle der Amme adäquat gerechnet wie auch Christopher Jähnig der des Saretzkij und der des Hauptmanns.

Giorgos Kanarissteigert sich in der Titelpartie nach verhaltenem Beginn in Sie schrieben mir vor allem im Schlussbild, wenn die Überheblichkeit des Dandys mehr und mehr der Schwermut des Außenseiters weicht. Sein Pendant Lenskij ist mit Santiago Sánchez idealtypisch besetzt. Er verkörpert die ungestüme Leidenschaft des Jünglings ebenso wie die Todesahnung in Wohin seid ihr entschwunden vor der Duellszene. Ein wichtiger Karriereschritt in einer nach oben gerichteten Laufbahn. Wie in einer vorzüglich besetzten Tosca von Giacomo Puccini wird auch in diesem Eugen Onegin der eindrucksvollere Sänger zu früh aus dem Bühnenleben gerissen.

Pavel Kudinov als Gremin und der Triquet desJohannes Mertes werden mit reichlich Szenenbeifall bedacht. Dieser mag bei Kudinov stärker der eingängigen Melodie Ein jeder kennt die Lieb‘ auf Erden als dem Sänger gelten, der seinen Part mit einem überzogenen Vibrato angeht. Hingegen dürfte er voll und ganz dem eleganten wie kraftvollen Sänger Mertes gelten, der sein Couplet Ah! Voici la reine … mit französischem Esprit und stimmlicher Eleganz absolviert.

Anhaltender Beifall, durchsetzt mit Jubelrufen, arrondiert einen erlebnisreifen Opernabend. Dieser russischen Kultur, mag mancher nach der Vorstellung gedacht haben, vermag niemand etwas anzuhaben. Kein Tyrann und kein despotisches System. Zum Glück.

Dr. Ralf Siepmann

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