Richard Wagner Tannhäuser Besuch am 24. September 2022 in Essen (Premiere)
Aalto-Theater Essen
Des Sängers ideologiegetränkte Reise in ein dramaturgisches Debakel
Alle Musikdramen von Richard Wagner nach Rienzi sind der Erlösungs- und Entsagungsthematik verpflichtet, bei Ausnahme des Lohengrin. Auch seine Romantische Oper Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Im Schlussbild des dritten Aufzugs stirbt Tannhäuser alias Heinrich von Ofterdingen, zuvor von Wolfram als „erlöst“ befunden und von Venus, Inbegriff der Liebe, verloren gegeben, am Sarg Elisabeths. Pilger und Ritter vereinen sich klangrauschend in der finalen Gewissheit um Tannhäusers seelische Rettung.
In derselben Szene der Premiere der Neufassung des Tannhäuser am Essener Aalto-Theater kniet der Protagonist der Selbstreflexion zwischen irdischem Wahn und jenseitiger Entsagung reglos am Boden. Elisabeth und Venus stehen in einer Pose weiblicher spiritueller Verschmelzung aufrecht über ihm und küssen einander in inniger Verbindung. Sie symbolisieren so den Rahmen, das framing, modern gesagt, in dem sich gerade die Neuinszenierung des Regisseurs Paul-Georg Dittrich abgespielt hat. Gegen alle von Wagner verwendeten historischen Quellen werden die Gegensätze, die Venus und Elisabeth exemplarisch verkörpern, in einer feministischen Dekonstruktion aufgehoben und in der Retorte vereint.
Merle Fahrholz, die neue Essener Intendantin in der Nachfolge von Hein Mulders, deklariert das Musiktheater als einen Ort, „in dem wir in andere Welten abtauchen können, seien diese historisch oder märchenhaft“. In der Auftaktproduktion zur neuen Spielzeit verwandelt sich dieses „Abtauchen“ mehr zu einem „Wegtauchen“. Weg von den Optionen jedweder Inszenierung, die das Verständnis eines Werks aus seiner Zeit heraus ermöglicht und unsere Reflexion hierzu aus heutiger Sicht werkaffin eröffnet. Seinen Ausgangspunkt nimmt dieses dramaturgische Debakel bei der Entscheidung, den ausgewiesenen Theaterregisseur Dittrich mit der Inszenierung zu beauftragen. Ihn, der in der vergangenen Spielzeit schon mit seinem Essener Operndebüt, Herzog Blaubarts Burg von Béla Bartók, seine Fähigkeit unter Beweis gestellt hat, Effekte ohne Erkenntnisse zu stiften.
Ausstattung, Personencharakterisierung und Personenführung haben – insbesondere im ersten Aufzug – wenig mit einer Tannhäuser-Inszenierung zu tun. Das Innere des Venusberges, die Halle in der Wartburg wie das Tal vor ihr dienen als Platzhalter einer ganz eigenen kunsthistorischen Reise, die Dittrich zusammen mit den Phantasiewelten der Ausstatterinnen Pia Dederichs/Lena Schmid (Bühne/ Kostüme) und dem Videodesigner Vincent Stefan dem Publikum aufzwingt. Verknüpft mit dem Anspruch, unterschiedliche Epochen bis ins Heute zu verbinden.
Als Motiv für die Welt des Eros dient die am Ende des zweiten Jahrhunderts geschaffene Skulptur Die Venus von Milo. Symbol einer Gesellschaft, in der die Sexualität nicht repressiv verstanden wird wie in der engen Minnekultur des prüden Mittelalters, gegen die Tannhäuser anrennt. Dittrich geht es freilich weniger um Erotik pur, vielmehr um all das, was sich um Leib und Leben, Gebären und Verletzen dreht. Der Oberkörper der Statue wird zur Projektionskulisse von medizinischen Eingriffen. Die Bilder könnten aus einer Schönheitschirurgie stammen, später aus einer gynäkologischen Klinik. Blut fließt, Gedärme platzen auf.
In dieser Welt aus dem Reality-TV tollen Tannhäuser und Venus frohgemut um das Ergebnis ihrer Verbindung herum: ein Kind im Kinderwagen. Dazu ertönt Heinrichs Frohlocken: Die Wonnen süss, die deiner Huld entsprießen, erheb´ mein Lied in lautem Jubelruf! Ein Gesang, dem so plötzlich eine ganz andere Bedeutung zukommt. Hinzu gesellt sich der junge Hirte als Amor mit Pfeil im Engelskostüm. Mercy Malieloa singt ihn mit Intensität und stimmlicher Klangschönheit. Befremdlich ist alsdann, dass die Pilger in silbrigem Outfit von hohen Gerüsten von ihrer Pein „unter der Sünden Last“ künden. Dass Wagners Musik in einer solchen übergestülpten Ambition auf den zweiten Platz verwiesen wird, offenbart das Bühnengeschehen unmissverständlich, auch schon während der hinreißenden, die Pole von Begierde und Agape durchströmenden Ouvertüre.
Motiv für den zweiten Aufzug ist Raffaels Fresko Die Schule von Athen von 1510, in der sich Renaissance und Antike verbinden. Es bildet den Rahmen der von Elisabeth gepriesenen „teuren Halle“, in der sich die Sänger zu ihrem Wettstreit versammeln. Desillusionierend gewandet in weißen Einheitsmonturen. Wild gestikuliert im Hintergrund der Chor, der sich zu den Darbietungen der Minnesänger wiegt, Aristoteles-Masken und Steintafeln vor sich auf und nieder bewegend. Ein Momentum, das eher stört, zumal Heiko Trinsinger die Ode des Wolfram von Eschenbach „an der Liebe reinstes Wesen“ mit seinem betörend schönen Bariton in bester Legatokultur trefflich gestaltet.
Die Presse ist in Gestalt von Christopher Hochstuhl als Heinrich der Schreiber auch dabei. Während des Sängerwettstreits entstehen Zeichnungen der Rivalen, die – wer weiß – demnächst von Hand zu Hand gehen. Tannhäuser, der Rebell und Provokateur, wie ihn Dittrich von Szene zu Szene profilschärfend agieren lässt, kann an einem solchen Ort nur verzweifeln und sein Heil im fernen Ausland, in Rom beim Papst, suchen.
Das Bühnenbild des dritten Aufzugs schlägt eine Brücke zur Gegenwart, was die Regie als Aufforderung zu einem Perspektivwechsel versteht und so das Publikum ungefragt von der eigentlichen Oper ablenkt. Eine Bevormundung? Eine Geste der Missachtung gegenüber Wagner? Den Besuchern wird eine museal aufbereitete Darstellung des Raffael-Bühnenbildes präsentiert, die aber wenige Minuten später vom Kind aus dem ersten Akt durch weiße Farbe übermalt wird. So werden gewollt gewohnte Wahrnehmungsebenen gebrochen. Opernregie als Dekonstruktion.
Dittrichs Personenregie will da nicht nachstehen. Die Protagonisten sitzen nun nebeneinander auf einer Bank, von der sie – wie Einwechselspieler beim Fußball – in das Geschehen eingreifen, wenn ihre Rolle es erfordert. Elisabeth läuft zu ungewohnter Form auf, ohrfeigt Tannhäuser und setzt ihm ein Messer an die Kehle. Wolfram nötigt Elisabeth einen langen Kuss auf und würgt sie, nachdem sie sich von ihm losgerissen hat, zu Tode. Nicht genug der Tollerei: An ihre Stelle wird eine leblose Venus abgelegt.
Ein solches Regiekonzept geht unvermeidlich auch auf Kosten des musikalischen Dramas und seiner Wirkung. Wenn Wagners Klangkosmos gerade einen akustischen Raum der seelischen Tiefe und der metaphysischen Überhöhung geschaffen hat, fallen Dittrich aus seiner Theaterpraxis immer wieder Effekte des Action-Kinos ein, die den Prozess der Verinnerlichung im Parkett und auf den Rängen aufhalten oder stören. Heutige Kinder mit Cap und Kopfhörern - Geschwister des Nachkömmlings aus dem Venusberg? - stürmen durch die Szene oder das Parkett. Auch Elisabeth, Wolfram und Tannhäuser streifen durch die Besucherreihen, während die Pilger ihre Weisen aus dem obersten Rang ertönen lassen.
Musikalisch ist dieser Tannhäuser ungeachtet der Regieintentionen - womöglich trotz dieser - ein Erlebnis, nicht allein ein Sängerfest angesichts drei herausragender Sängerdarsteller und eines glänzend disponierten Chores (Einstudierung Klaas-Jan de Groot). GMD Tomáš Netopil hat sich, wie er im Programmheft ausführt, zu „ungefähr 80 Prozent“ für die Dresdner Fassung entschieden. Nur die zweite Szene des ersten und das Finale des dritten Aktes seien der Pariser Fassung entnommen worden. Netopil nimmt die klare, geradlinige „mehr nach einem Guss“ klingende Partitur mit den Essener Philharmonikern wie einen anspruchsvoll ausgesteckten Parcours bei einem Reitturnier der Spitzenklasse, mit Sorgfalt und viel Geduld in den Tempi. Packend die orgiastischen Sequenzen, pastell die celestischen Feinheiten und voller Feingefühl die Abstimmung mit den Sängern. Famos aufspielende tiefe Streicher, die Blechbläser, das Englisch Horn und die Harfe sind die instrumentalen Highlights dieses Abends.
Sein Rollendebüt in der mörderischen Titelpartie meistert Daniel Johansson mit technischer Gewandheit, großer Textverständlichkeit und bruchlosen Wechseln durch alle Register. Wagner verlangt einen „Heldentenor“, der Lyrisches mit Heroischem zu verbinden versteht. Johansson scheint auf dem besten Wege, dieser „Stellenbeschreibung“ sehr nahe zu kommen. Unter den Rivalinnen Tannhäusers hinterlässt die Elisabeth der Astrid Kessler mit der himmelsstürmenden Höhe und der nuancenreichen Ausdrucksstärke ihres Soprans den stärkeren Eindruck. Deirdre Angenent bleibt als Venus da ein Stück zurück, auch wegen ihres unnatürlichen Vibratos bei aufsteigender Intensität. Die „mütterliche“ Komponente, die Dittrich ihrer Rolle eingeimpft hat, wirkt sich womöglich zu Lasten ihrer göttlichen vokalen Explosivität aus.
Karl-Heinz Lehner ist als Landgraf von Thüringen mit sonorem Bass eine gute Besetzung. In den Partien der weiteren Minnesänger sind Mathias Frey als Walther von der Vogelweide, Bart Driessen als Reinmar von Zweter, Andrei Nicoara als ungestümer Biterolf mehr als passabel. Das Publikum feiert den neuen Essener Tannhäuser mit großem Jubel für alle musikalisch Beteiligten, in den sich freilich kräftige Buhs für das Regieteam mischen. Dieser Jubel wirkt indes wie eine Momentaufnahme. Zum visuellen Finale präsentiert Dittrich Wagners angebliche Aussage in der Todesstunde, er sei der Welt noch einen Tannhäuser schuldig, diese allerdings verkürzt. Sie lässt sich ins Heutige weiterdenken. Vermutlich sind Regisseure uns, dem Publikum, gegenwärtig noch Inszenierungen schuldig, die dem Werk gegenüber Respekt erweisen. Und der Öffentlichkeit allemal.
Diese Aalto-Produktion zeigt ziemlich drastisch auf, wie die Oper Gefahr läuft, an Authentizität zu verlieren, wenn sie der Suche nach ideologiefixierten neuen Narrativen ausgeliefert wird. Bewusstsein, selbstredend das Angesagte, geht vor der Kunst. Entscheidend für diesen Trend sind aber nicht Regisseure. Es sind Intendanten, die Regieaufträge vergeben, und Kulturpolitiker, die Intendanten berufen. All dies derzeit in einer Phase des Generationenwechsel. Der Ausgang? Offen. Er wird zu begleiten sein.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Monika und Karl Foster
26. September 2022 | Drucken
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