Le nozze di Figaro Wolfgang Amadeus Mozart Besuch am 13. Mai 2023 Premiere
Aalto-Musiktheater Essen
Tollhaus der Lust: Turbulente Regie richtet den Fokus auf die Conditio humana in Mozarts Meisterwerk
Wenig stimmt im Hause des Grafen Almaviva, vieles liegt im Argen. Die historischen Standesunterschiede des späten französischen Rokoko sind ziemlich eingeebnet, zumindest im Erotischen. Jeder treibt es mit jedem, sei es Gesinde, sei es Herrschaft. Die letzte Neuinszenierung der aktuellen Spielzeit am Essener Aalto-Theater rückt die in Le nozze di Figaro verhandelte revolutionäre gesellschaftspolitische Idee beiseite, um sich mit Hingabe und Genuss auf die allgemein menschliche Substanz zu stürzen. Zeitlos und auch deswegen umso inspirierender.
La Folle Journée ou le Mariage de Figaro, die Komödie von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, nimmt mit ihrer beißenden Kritik an der Ständegesellschaft die Französische Revolution gleichsam vorweg. Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo Da Ponte reizt an der Vorlage von 1778 nicht die mit Intrigen und Frivolität gespickte Kritik am Ancien Régime. Der von einem einzigartigen Sturm- und Drang-Rausch erfüllte Mozart, im Jahr der Wiener Figaro-Uraufführung 1786 nicht einmal 30 Jahre jung, sieht in der Abrechnung mit der überkommenen politischen Klasse die Chance, die Gesellschaft schlechthin zu entlarven. Die Figuren des Beaumarchais-Theaters werden in ihren Selbst- wie Sehnsüchten zu universalen Menschen geformt, überhöht in Mozarts verführerischer Musik im Stil lebendiger italienischer Konversation.
Von Epoche zu Epoche, von Opernhaus zu Opernhaus, von Inszenierung zu Inszenierung erfährt Le nozze di Figaro neue Sichtweisen, andere Interpretationen. Das gilt auch für den aktuellen Versuch im Aalto-Theater. Floris Visser interessiert sich wenig für überkommene Privilegien und Vorrechte des Adels oder die Idee, sie erst in Frage zu stellen, dann abzuschaffen. Vielmehr arbeitet er sich an der Conditio humana ab, um so auch uns Heutigen den Spiegel vorzuhalten.
Vissers Verständnis des Stücks rangiert nicht weit von Barrie Koskys Figaro-Regiekonzept vom Februar dieses Jahres an der Wiener Staatsoper, das auf die erotischen Manien und sexuellen Begierden der Schlossbewohner zu Sevilla fokussiert. Es hat aber hiermit nichts zu tun. Die Essener Neuinszenierung wird weit vor der Wiener geplant, muss dann aber wegen der Corona-Pandemie verschoben werden.
LLP Vissers Idee eines Tollhauses der Leidenschaften wird von der Aalto-Bühnentechnik und den findigen Einfällen Gideon Daveys begünstigt, der Bühne und Kostüme verantwortet. Für die ersten drei Akte hat er drehbare Räume im Stil eines englischen Herrenhauses entworfen, in dem alle Beteiligten engst möglich miteinander leben und auskommen müssen. Eine Konstellation, die an das Unentrinnbare der Charaktere in Filmen von Ingmar Bergman erinnert. Intimität hat einen hohen Stellenwert, wird aber kaum gewahrt. Jede Variante der Intrige, die Susanna, Figaro und die Gräfin aushecken, bekommen mehr Beteiligte mit als in jeder anderen Figaro-Inszenierung.
Mit dem wie am Schnürchen funktionierenden Effekt der Drehbühne sind allerlei witzige Übergänge von Raum und Zeit verbunden, so beispielsweise das Novum, dass Figaro bei seiner Kampfansage an Almaviva Se vuol ballare, signor Contino im Eilschritt durch eine Tür von einem Raum in den nächsten wechselt. Der erotische Fokus dieser Inszenierung hat auch seine derb-praktische Seite. Entweder ist das Bett, in dem zu Beginn des zweiten Aufzugs die Gräfin im Stil der Eröffnungsszene des Rosenkavalier erwacht, oder die Matratze, die am Anfang des ersten Aufzugs Figaro und Susanna als willkommenes Utensil einer erotischen Probe dient, der zentrale Schauplatz der umtriebigen Handlung.
Almavivas Herrschaftshaus wird nicht nur von innen gefährdet. Auch von außen wächst Bedrohliches herein, im buchstäblichen Sinne. Aus dem umliegenden Garten befällt die Natur das Gebäude und frisst sich so schnell hinein, dass Zerstörung droht. Der unheimliche Prozess wird durch einen Anstrich von Grün auf den vormals weißen Wänden ausgedrückt, das von Akt zu Akt, von Szene zu Szene an Umfang zunimmt. Ist damit der zeitlose Kampf der degenerierten Natur des Menschen gegen die ursprüngliche Natur symbolisiert, die drauf und dran ist, sich den angestammten Raum zurück zu erobern? Ein bemerkenswerter mentaler Stolperstein.
Schon bei Beaumarchais, erst recht in der Partitur Mozarts konkurrieren die animalische Lust, die Wollust, und die reine Liebe, Agape in ihrer idealistischen Überhöhung. Mit Cupido und Satyr führt Visser zwei zusätzliche allegorische Figuren ein, die die Szenen der aus den Fugen geratenen Ehe und die Auftritte der übrigen Protagonisten begleiten und – häufig im Einklang mit Text und Musik einer Szene – verdeutlichen. Bisweilen drängt sich der Eindruck auf, als wolle Visser mit ihnen den Charakter der Hemmungslosen wie den der wenigen Personen, mit denen er leidet, noch stärker akzentuieren, als es Da Pontes Libretto eh schon unternimmt. Oder den Umschlag von der Düsternis zum Hellen in der Musik illustrieren. In dem Augenblick, als das Rezitativ der Gräfin zu ihrer Bravourarie Dove sono i bei momenti hinführt, erscheint Cupido in der Tür wie der Person gewordene Trost.
Der Schauspieler und Tänzer James Michael Atkins als Satyr sowie der kleinwüchsige Schauspieler Mick Mehnert sind in diesen Komplementärrollen schlicht großartig. Leider schießt der Regisseur weit über sein selbst gestecktes Ziel hinaus. Im Schlussakt vergewaltigt Satyr Cupido, der am Ende – noch so ein Symbol – mit dem Liebespfeil im Rücken wie tot danieder liegt. Die „reine“ Liebe, will wohl das Bild sagen, hat in dieser, in unserer Welt keine Zukunft. Warum Marcellina im Übrigen unter Assistenz des Satyrs ein Kind auf die Welt bringt, bleibt wohl Vissers Geheimnis.
Um es vorweg zu nehmen: Vieles, sehr vieles stimmt bei diesem Ensemble weitgehend hauseigener Kräfte, die als Sänger wie als Darsteller überzeugen. Dem Vernehmen nach ist die Figaro-Neuproduktion wesentlich das Ergebnis sieben intensiver Probenwochen. Anders wäre die hohe schauspielerische Qualität des Bühnengeschehens wohl auch kaum vorstellbar, der die musikalische in Nichts nachsteht.
In der Rolle des Figaro gibt Baurzhan Anderzhanov Tempo und Anspruch der Aufführung durch seinen Spielwitz und seinen geschmeidigen Bariton von Beginn an vor. Seine Tessitura von einer sicheren Höhe über eine helle, vielleicht zu helle Mittellage bis hin zu einer staunenswerten Tiefe beeindruckt. Ein deutlicher Sprung in seiner Karriere. Die Sopranistin Markéta Klaudová ist ihm als Susanna ebenbürtig. Die enorme Präsenz, die ihr dank ihrer Rolle, die Handlung voran zu treiben, zu kommt, erfüllt sie mit der kecken Chuzpe und der gelinden Frivolität, die sich auch in ihrer Stimme manifestieren.
Das bei Visser nicht mehr sonderlich noble Paar ist mit Tobias Greenhalgh als Graf und Jessica Muirhead als Gräfin vorzüglich besetzt. Greenhalgh steigert sich in der Rolle des jugendlichen narzisstischen Almaviva in das perfekte Abbild eines Gekränkten, der in der temperamentvollen Arie Vedrò mentr’io sospiro tief in sein Inneres blicken lässt. Mit ihrem leuchtenden Sopran gibt Muirhead der Rosina anfänglich die Seria-Ernsthaftigkeit, die in ihrer Auftrittsarie Porgi amor echtes Mozart-Glück flutet. Das stellt sich noch einmal im Duettino Canzonetta sull’aria mit Susanna ein, was sich aber mehr und mehr als trügerisch entpuppt. Diese Gräfin hat es faustdick hinter den Ohren, um einmal eine Sprache zu zitieren, die auch vom Gärtner Antonio verstanden wird, den Karel Martin Ludvik mit Vehemenz gestaltet.
In den weiteren Partien gibt es durchweg Mozart-Kompetenz zu erleben. Miriam Albano ist ein agiler gefühlvoller Cherubino. In ihrer ersten Solo-Arie Non so più cosa son überzeugt der Mezzo stärker als in ihrer zweiten, die sängerisch allerdings vieles verlangt. Aus der Marcellina der Bettina Ranch funkelt die Intrige, die sich in einer gelegentlichen Neigung zur Unruhe bemerkbar macht, schrammt sie doch immer wieder an ein unnatürliches Vibrato. Natalija Radosavljevic gibt eine passable Barbarina. Uwe Eikötter als Don Basilio, Jeffrey Dowd als Don Curziound Andrei Nicoara als Bartolo machen den positiven Gesamteindruck perfekt, zu dem auch der Opernchor, einstudiert von Patrick Jaskolka, beiträgt.
Die Essener Philharmoniker, inspiriert von ihrem musikalischen Leiter Tomáš Netopil, errichten über die ganze Strecke von drei Stunden das exquisite Fundament, auf dem sich die musikalische Figaro-Architektur erst entfalten kann. Sicher in den stimmigen Tempi, akkurat im Zusammenspiel von Bühne und Graben. Sie werden wie das gesamte Ensemble und das Regieteam am Ende vom stürmischen Beifall des begeisterten Publikums überschüttet. Der Schlussstein im Gebäude der ersten Spielzeit in der Intendanz von Merle Fahrholz passt. Wer sich selbst überzeugen mag – weitere Aufführungen gibt es bis weit in den Juni hinein.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright: Matthias Jung
16. Mai 2023 | Drucken
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