Il Trionfo del Tempo e del Disinganno Georg Friedrich Händel Besuch am 21. September 2024 Einmalige Aufführung
Festival Alte Musik Knechtsteden Klosterbasilika
Virtuose Zwischenwelt: Instrumentale und vokale Barockkunst zum verheißungsvollen Festivalauftakt
Auf seiner ersten Italienreise komponiert Georg Friedrich Händel 1707 in Rom das Oratorium Il Trionfo del Tempo e del Disinganno. Es beruht auf einem Libretto eines der wichtigsten Förderer des 24-jährigen, des Kardinals Benedetto Pamphilj. Da zu der Zeit durch die Repression des mächtigen Papsttums Opern aus öffentlichen Theatern verbannt sind, opera proibita herrscht, sichert allein die Form des Werks die Aufführung, mutmaßlich im Theater des Collegio Clementino.
Im Eröffnungskonzert des Festivals Alte Musik Knechtsteden, das unter der programmatischen Devise Zwischenwelten steht, ruft das blendend eingestellte Ensemble 1700 unter der Leitung von Dorothee Oberlinger, Blockflötenvirtuosin und Knechtstedener Artist in Residence, im Verein mit einem erlesenen Sängerquartett ein Werk in die Erinnerung zurück, das erstmals die Begeisterung Händels für das Experiment und die Virtuosität im Umgang mit den solistischen Instrumenten wie den Gesangskünstlern zeigt.
Händels vier Jahre umfassender Italien-Aufenthalt nach dem Abschied von der Hamburger Gänsemarktoper, wo er lediglich in der zweiten Reihe als Geiger und Cembalist zum Zuge kommt, und vor dem Übergang nach London ist selbst eine Zwischenwelt, biographisch wie musikalisch. Mit den biblisch inspirierten Londoner Oratorien ab 1737 – zu nennen wären insbesondere Belshazzar, Hercules, Jeptha, Saul, Semele – hat Il Trionfo del Tempo e del Disinganno wenig gemein. Das allegorische Oratorium thematisiert elementare menschliche Werte in einer zeitlosen Überhöhung, mit der niemand anecken kann, weder bei der weltlichen noch der geistlichen Herrschaft.
Im Zentrum des Oratoriums steht die Vergänglichkeit der Schönheit. Um ihre Gunst wetteifern Vergnügen, Zeit und Schönheit. Im versöhnlichen Finale erkennt die Schönheit die wahren Werte des Lebens. Sie weist die Täuschungen des Vergnügens zurück, trennt sich von sinnlichen Freuden und bekehrt sich zum Vergnügen der Einsicht in die himmlischen Wahrheiten, wo die Tränen der Gerechten zu Perlen werden. Sie beschließt, den Rest ihres Lebens in einer Einsiedelei oder einem Kloster zu verbringen.
Die Partitur ist abwechslungsreich und offeriert eine Fülle an Melodien. Die Affekte der Protagonisten werden wirkungsvoll temperiert. Händel profiliert die unterschiedlichen Charaktere durch individuell zugeordnete Tonarten. Er folgt dem von Arcangelo Corelli und Alessandro Scarlatti geprägten italienischen Stil und wechselt genrekonform Rezitativ und Arie ab. Ensemblenummern mit den Gesangssolisten werden sparsam eingesetzt. Ein erstes Duetto gibt es nach 30, das erste Quartetto nach 60 Minuten. Ihr Effekt ist ohnehin begrenzt. Entweder liegen die Stimmen, so beim Duetto Bellezza und Piacere, Sopranist und Sopran, sehr dicht beieinander. Oder sie finden nur in knappen Momenten zu einer Tutti-Einheit.
Die Sonata, die Ouvertüre, bildet mit frohlockenden Tönen ein großes Tor musikalischer Ornamentik, die das immense Talent des frühen Händel für Orchesterfarben und den nuancierten Einsatz von Instrumenten zeigen. Kaum ist die festliche Vorfreude verflogen, zeigt sich Bellezza, die Schönheit, in ihrer tiefen Verwundbarkeit. Die melancholische Arie des Interpreten der Bellezza im Angesicht eines specchio könnte als erste Spiegel-Arie der Geschichte von Oper und Oratorium gelten, weit vor Dapertutto in Hoffmanns Erzählungen.
Einen Spiegel aus dem Theaterfundus hält Dennis Orellana als Bellezza auch wirklich in den Händen. Er ist eines in einer ganzen Reihe von Requisiten, mit denen Nils Niemann, Spezialist für szenische Aufführungen des barocken Theaters, die Auftritte des Sängerquartetts plastischer zu machen sucht. Einige wie die Sanduhr, die Tempo, dem Darsteller der gnadenlos verrinnenden Zeit, zugeordnet ist, erscheinen durchaus sinnvoll, andere schlicht entbehrlich.
Zeichnet sich der erste Teil durch ein ganzes Register an Virtuosität aus, weicht diese im zweiten Teil moderater Einfachheit. Die von beiden Blockflöten begleitete Bellezza-Arie Ricco pino nel cammino erzeugt eine überirdische Atmosphäre. Die Piacere-Arie Lascia la spina, cogli la rosa löst tiefe Gefühle von Entrücktsein und Schmerz aus. Händel greift sie mit dem Text Lascia ch’io pianga in Rinaldo, seiner ersten italienischen Oper für London, 1711 auf.
Einfühlsam geleitet von seiner Gründerin Dorothee Oberlinger, demonstriert das Ensemble 1700 seine profunde Kompetenz in der Barockmusik. Seine Aufstellung folgt dem Concerto-grosso-Format der zwei Gruppen. Links Streicher, rechts Cembalo, Basso continuo, Laute, zentral Blockflöte, Oboe, Fagott. Für die vokalen Könner im selben Genre bilden sie eine verlässliche musikalische Grundlage, vielleicht gar Heimat.
Als Bellezza, der nicht von ungefähr das erste und das letzte Wort des Oratoriums hat, begeistert der Sopranist Dennis Orellana mit stupender Technik, langgezogenen schönen Linien, großartigen Intervall-Sprüngen und ausgefeilten Koloraturen. Der Countertenor Alois Mühlbacher ist als Disinganno, die Verkörperung der Erkenntnis, eine packende Ergänzung. Wie er die hellen und dunklen Farben in seiner Arie Più non cura valle oscura im Dialog mit den Blockflöten ausmalt, zählt mit zu den Highlights der Aufführung. Als Tempo ist der Tenor Laurence Kilsby, wie seine beiden Kollegen fast noch im jugendlichen Alter, mit seiner für Passionen und Kantaten des Barocks vorzüglich geeigneten Tessitura eine herausragende Besetzung. Seine Arie Folle dunque tu sola, die mit einem Aufschrei beginnt, lässt er in einer wunderschön gehaltenen Fermate ausklingen, die berührt.
Die Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli, die über langjährige Erfahrung der Zusammenarbeit mit herausragenden Ensembles der historisch informierten Aufführungspraxis verfügt, kämpft als Piacere tapfer gegen eine leichte Indisposition an. Das Verführerische ihrer Figur gelingt ihr auch in der musikalischen Variante durchaus, nach und nach mit wachsender Vehemenz.
Das Publikum in der proppenvollen Basilika des Klosters Knechtsteden feiert alle Mitwirkenden mit großem Beifall und Jubel. Das Festival, das sich über eine ganze Woche erstreckt, präsentiert mit Golgotha von Frank Martin am 28. September ein weiteres Oratorium, ebenfalls in der Klosterbasilika. So gibt es die Option, ein Format, das Jahrhunderte der Kompositionsstile durchzieht, am Niederrhein zu besichtigen.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Thomas Kost
23. September 2024 | Drucken
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