Antonio Vivaldi Orlando Furioso Besuch am 17. Juni 2022Dortmund
Vokale Brillanz und ein Feuerwerk der Koloraturen im Konzerthaus Dortmund
Ho cento vanni al tergo …Hundert Flügel, stimmt Orlando im jagenden Tempo an, habe er auf dem Rücken. Zweihundert Augen im Gesicht und eine Wut in der Brust, die sich mit tausend Herzen erzürne. Der Ritter, Titelfigur in Antonio Vivaldis dramma per musica, ist von Sinnen und macht seinem Ruf, seit Erscheinen des Epos Der rasende Roland von Ludovico Ariosto im 16. Jahrhundert, Orlando Furioso zu sein, alle Ehre. Max Emanuel Cenčić, der Countertenor, gibt die Figur im Wahn beim Dortmunder Musikfestival Klangvokal mit virtuoser Vehemenz und überschäumender Cholerik. Das Arioso, einem langen von Rachegefühlen befeuerten Rezitativ folgend, ist eines der Highlights der konzertanten Aufführung im Konzerthaus der Stadt. Das Spektakel entwickelt sich zu einer Sternstunde, in der sich ein musikalisches Juwel an das andere reiht.
Konzertante Aufführungen sind ein Markenzeichen des Festivals, das seit 2009 die Vielfalt der Vokalmusik zu präsentieren bemüht ist, nicht zuletzt durch Belebung der Chorszene in der eigenen Stadt. Im Bereich der Oper gewinnt es überregionale Aufmerksamkeit durch orchestral wie vokal herausragend besetzte Produktionen. Vor wenigen Tagen Donizettis wenig bekannte Caterina Cornaro, Bellinis Il Pirata 2021 oder etwa Rossinis Le Comte Ory 2017. Orlando Furioso verlangt eine exquisite Sängerriege und ein auf die Kunst des Barocks geeichtes Instrumentalensemble. Beides ist mit dem von Max Emanuel Cenčić in der Titelpartie angeführten Team von sieben Vokalvirtuosen, darunter drei Countertenören, und dem Barockorchester Armonia Atenea mit George Petrou am Pult geradezu satt machend aufgeboten.
Von den 94 Opern des prete rosso, wie der Komponist und Theaterimpresario in Venedig genannt wird, sind etwa 50 durch sichere Berichte nachgewiesen. Von rund 20 lediglich ist die Partitur vollständig erhalten. Diese Zahlen stammen von dem Vivaldi-Spezialisten Claudio Scimone, der Ende der 1970-er Jahre mit den Solisti Veneti eine Neueinspielung des dreiaktigen Oper in einer restaurierten Fassung vorlegt, die als Referenzaufnahme gilt. Ist Vivaldi als Komponist von Instrumentalmusik populär, ist er dies nach Scimones Auffassung als Komponist von Melodramen nicht minder.
Als Gipfel der Vollendung eines sich über ein Vierteljahrhundert erstreckenden Engagements Vivaldis für die Kunst der Oper darf seine 1727 im Teatro Sant’Angelo in Venedig uraufgeführte Opera seria gelten, deren Werk- und Rezeptionsgeschichte etliche musikwissenschaftliche Bände füllen dürfte. Orlando Furioso beruht auf einem Libretto von Grazio Braccioli und stellt Vivaldis zweite künstlerische Auseinandersetzung mit Ariostos Versepos dar. 1714 – Vivaldi ist Theaterdirektor des San Angelo geworden – erlebt er einen Misserfolg mit der eigenhändig verfassten Fortsetzung einer Orlando-Oper des Komponisten Giovanni Alberto Ristori auf Bracciolis Textbuch. Die Geschichte Orlandos, im ursprünglichen Epos ein Paladin in Diensten Kaiser Karls des Großen, lässt Vivaldi mehr als ein Jahrzehnt lang nicht ruhen. Scimone führt für den großen Erfolg der zweiten Fassung ein markantes Indiz auf. Allein zehn Arien, wenn auch mit Veränderungen, seien für Vivaldis zwei Jahre später aufgeführteAtenaide verwandt worden.
Die Handlung kreist um stürmische Liebe, rasende Eifersucht, glühende Rache und verzückte Versöhnung. Ort der mythischen Handlung ist die Insel der Zauberin Alcina. Das Geschehen wird durch zwei Liebeskonstellationen à drei Personen angetrieben. Ritter Orlando, Angelica, in die Orlando verliebt ist, und Medoro, der Geliebte und später Verlobte Angelicas, auf der einen Seite. Alcina, Ruggiero und Bradamante, die Verlobte Ruggieros, die auch als Mann verkleidet eine Rolle spielt, auf der anderen. Schließlich Astolfo, der Vetter des Orlando, der der Zauberin verfallen ist, sich aber als Rächer an ihr profiliert, nachdem sie Orlando in ihre Macht gebracht hat.
Alcinas böser Zauber wird erst gebrochen, als Orlando in seinem Wahn eine Statue des Magiers Merlin zerstört und die Zauberin die Flucht ergreift. Womöglich in das Libretto einer nächsten italienischen Oper. Gehört doch der Mythos der Alcina zu den meistervertonten Stoffen der Oper überhaupt. Orlando Furioso endet mit einem lieto fine für zwei Paare, was sich im Chor Con mirti, e fiori im schönsten C-Dur auf die standhafte Liebe dokumentiert.
Die Vollendung, die Vivaldi als etwa 50-jähriger mit Orlando Furioso in der Kunst der Opera seria findet, manifestiert sich in der ausgeklügelten Balance, die der dramatische und der musikalische Anteil am Gesamtwerk findet. Das weitgehende Gleichgewicht zwischen den Rezitativen, die den Fortgang der Handlung schildern, und den Arien, die die affetti, die Gefühle der Akteure, in langen ausschmückenden Linien ausdrücken. Armonia Atenea bringt diese fast schon klassizistische Harmonie der Formen brillant zur Geltung.
Akkurat die Basslinie und die Harmonien des Basso continuo, weich fließend und edel strömend die musikalischen Girlanden der Streicher, Bläser und der großartig korrespondierenden Laute. Grandios der exponierte dreimalige Auftritt der Traversflöte als Begleitung von Nicholas Tamagna als Ruggiero. In dem Largo Sol da te mio dolce amore, eine Liebesbeschwörung mit unendlich langem Atem im ersten Akt, und der Arie Che bel morir ri in sen im zweiten Akt verschweißen Sänger und Instrument geradezu zu einem Ganzen. Nun ist der Countertenor Tamagna mit seiner samtweichen Stimme und seiner melodischen Artikulation auch eine ideale Verkörperung des heldenhaften Ritters.
Tamagna und der Countertenor Philipp Mathmann als Medoro, der mit der Arie Qual candido fiore, unterlegt mit dem flirrenden Piccicato der Streicher, einen glamourösen Akzent setzt, bilden in der Regie der Männerstimmen die stimmlich eher noble Gruppe. Demgegenüber zieht Cenčić, der sich inzwischen als Mezzosopran definiert, mit viriler Power alle Register seines virtuosen Könnens, vokal wie in der Mimik. Schneidend seine Wahnattacken, aufbrausend, dann besänftigend sein Seelensturm in der Arie Sorge l’irato nembo, gipfelstürmend seine perfekten Koloraturen im Arioso Scendi nel tartato nel tartaro, in dem Orlando zur Rache an der „grausamen Furie“ alias Alcina aufruft.
Der Bassbariton Sreten Manojlovic gibt Astolfo mit teils komödiantischer, teils listiger Mimik Stimme und Figur. Seine Arie Benche nasconda, in der er Betrug und Treulosigkeit im Reich der Alcina beklagt, zeigt ihn selbstbewusst und präsent. Ob seine Auftritte auch verraten sollen, dass er im Original des Ariosto ein englischer Prinz ist?
In der Dreier-Gruppe der weiblichen Stimmen besticht die Alcina der Mezzosopranistin Vivica Genaux mit ihrem dunkel gefärbten Timbre und der prachtvollen Beweglichkeit ihrer Stimme. Die Partitur verschafft ihr die Dynamik eines Renngefährts, das verhalten beginnt, dann aber hohe Touren erreicht. Weist sie in der Arie Vorresti amor dàme das Liebesansinnen Astolfos entschieden zurück, zerfleischt sie sich förmlich in Cosi pottessi anch’io, um am Ende in der Arie Anderò, chiamerò dal profondo l’empie furie del baratro immondo sich mit den schönsten Koloraturen einzugestehen, Ruggiero verloren zu haben
Als Angelica, im Epos des Ariosto die schönste Frau der Welt, entzückt die Sopranistin Julia Lezhneva das Publikum. Ihr Sopran nimmt jede Höhe und jede Klippe, passagenweise a capella in dem Largo Chiara al pari di lucida stella. Eine Arie, die das Gefühl auslöst, als hätte sich eine Lerche im Konzerthaus niedergelassen. So in dem Koloraturenfeuerwerk Agitata da due venti, das die Nöte eines Seefahrers bei drohendem Schiffbruch ausmalt. Als Bradamante überzeugt die Altistin Sonja Runje mit dunkel grundierter Stimmfarbe und furiosen Koloraturen, die in Io son ne’ lacci tuoi einem reißenden Wildbach ähneln.
Selten dürfte mit Blick auf die Garde der sieben Sänger die Erkenntnis so berechtigt sein, im Ganzen mehr zu sehen als die Summe seiner Teile. Das Publikum scheint diese Ansicht zu teilen und überschüttet das Vokalensemble wie die Musiker von Armonia Atenea und ihren Leiter immer wieder mit Szenenapplaus und zum Schluss mit anhaltendem Beifall und Bravorufen. Draußen mag sich der heißeste Junitag seit langem seinem Ende zuneigen. Das musikalische Klima auf Alcinas Zauberinsel ist unendlicher angenehmer. Und verführerischer.
Dr. Ralf Siepmann
21. Juni 2022 | Drucken
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