Wiederentdeckung zwischen Himmel und Hölle: Ambitionierte Musiker retten schwaches Libretto nicht

Xl_asrael-1688_foto_thilo_beu © Copyright Thilo Beu

Alberto Franchetti Asrael Besuch am 16. Oktober 2022 (Premiere)

Theater Bonn Opernhaus

Wiederentdeckung zwischen Himmel und Hölle: Ambitionierte Musiker retten schwaches Libretto nicht

Der Schluss von Asrael ist ein mehrstufiges Ringen um ein musikdramatisches Ende, das sich mit etwas dichterischer Phantasie mit der Formel À la recherche du fin perdu umschrieben ließe. Großes Kino wechselt sich mit kleinformatigen Szenen – auch direkt vor dem Orchestergraben – ab, die von Peter Dicke an der Orgel einfühlsam umspielt werden. Darunter eine zur Pietà geordneten Figurenkonstellation, die man je nach Perspektive als religiösen Kitsch oder als anrührende menschliche Skulptur empfinden kann. Schlussendlich mit dem famos auftrumpfenden Chor des Bonner Theaters im Zusammenspiel mit einem bombastisch klingenden Beethoven Orchester Bonn, das bis dahin an die drei Stunden bereits alle Spielarten der gewaltigen Partitur bewältigt hat.

Dieser Final-Marathon ist eine von zahlreichen Merkwürdigkeiten der Neuentdeckung der Leggenda in quattro atti des aus einer reichen Turiner Familie stammenden Alberto Franchetti, die nach Jahrzehnten ihre Wiederaufführung im Theater Bonn erlebt. Genauer 134 Jahre nach der Uraufführung 1888 in Reggio Emilia im Theater der Stadt, das seinem Vater gehört. Und fast 90 Jahre nach letzten Aufführungen in Treviso und wahrscheinlich in Genua, ehe die Werke des Juden Franchetti im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Aufführungsverbot in Deutschland ereilt und sich in den Folgejahren die Situation für ihn nach Übernahme der NS-Rassegesetze in Italien auch in der Heimat verschlechtert. Trotz Fürsprache Pietro Mascagnis, der sich bei Mussolini für eine Wiederaufführung von Franchettis Christoforo Colombo einsetzt, dessen letzte Fassung Jahre zuvor unter Arturo Toscanini auf die Bühne in Rom gelangt.

Konzeptioneller Rahmen für die aktuelle Sicht auf Asrael ist das Projekt Fokus ´33, mit dem sich die Oper der Bundesstadt seit der Spielzeit 2013/14 um eine Neuansicht von Werken des Musiktheaters müht. Eben in dieses verdienstvolle Projekt der Neubesinnung auf Opern, die unter der Repression des NS-Regimes aus den Spielplänen verschwinden und nach dessen Ende in diesen auch nicht oder nur marginal wieder auftauchen. Unter diesen programmatischen Schirm passt Asrael hervorragend. Andere Argumente für ein Engagement zugunsten des Werks, das sich den klassischen Opernkonventionen weitgehend entzieht, dürften nicht ohne weiteres zu finden sein.

1888 ist der von Franchetti hochverehrte Richard Wagner seit fünf Jahren tot. Giuseppe Verdi lebt noch, während sich der 30-jährige Giacomo Puccini aufmacht, der italienischen Oper eine neue Form und einen neuen Geist zu schenken. In diesem Operninterim wittert der von seinem Vater, dem Baron Raimondo Franchetti, finanziell reichlich bedachte junge Komponist, seine Chance. In der neu entstehenden giovane scuola italiana mit den Exponenten Ruggiero Leoncavallo, Mascagni und Puccini entstehen drei, vier Kompositionen Franchettis, darunter sein Erstling Asrael und die Befreiungsoper Germania, über die tutto italia spricht. Auch weil Franchetti mit seinem opulenten Lebensstil und seiner Neigung für den Automobilsport ein Liebling der Medienkarawane wird, die heute Papparazzi genannt wird.

Die Geschichte von Asrael, dem – je nach Quelle – Cherubim oder Todesengel, fußt auf einem nicht sonderlich gelungenen Libretto von Ferdinando Fontana, der auch die Texte für die frühen Puccini-Opern schreibt. Sie handelt von zwei Engeln. Sie lieben sich, werden getrennt und kehren nach einer irdischen Bewährungsprobe Asraels in den Himmel zurück. Asrael ist im ewigen Ringen des höllisch Bösen gegen das himmlisch Gute in die Unterwelt verschleppt worden. Seine Gefühle für Nefta, die wir uns entgegen der Überlieferung als weiblichen Engel vorstellen dürfen, werden auch nicht durch die Herausforderungen in Gestalt von zwei Frauen erschüttert. Weder die sinnliche Loretta noch die geistreiche Lidoria vermögen Asrael vom Pfad der Liebe zu Nefta abzubringen. Als irdische Schwester Clotilde - sozusagen die empathische Frau per se - ermöglicht Nefta Asrael die Erlösung und den gemeinsamen Triumpf über Lucifer.

Christopher Alden, der US-amerikanische Regisseur, rückt in seiner Inszenierung glücklicherweise ein Stück von dem religiösen Schwulst ab, der Fontanas Legende durchzieht, um sich stärker auf die eher irdischen Figuren des spektakulären Szenarios zu konzentrieren. Hierfür haben sich die Ausstatter Charles Edwards (Bühne) und Sue Willmington (Kostüme) ein Sammelsurium an Szenen und Schauwerten einfallen lassen, das alle traditionellen Mysterien- und Passionsspiele hinter sich lässt. Eng an die hierarchische Idee von Himmel-Erde-Unterwelt angelehnt, spielt das Erlösungsdrama in einem Patrizierhaus, in dem den unterschiedlichen Sphären ganze Etagen zugewiesen sind. Bilder des Schreckens, von Krieg und Gewalt, wechseln sich ab mit Szenen, die in einem Ehegemach oder im Krankenhaus spielen könnten. Öffnet sich im Hintergrund eine Tür, ist ein erhängter Mensch zu sehen. Ein gefallener Engel? Lucifer erscheint als Feldherr mit Pickelhaube. Gestählte junge Männer mit freiem Oberkörper lassen Assoziationen aufkommen, die nichts mit der Reinheit von Engeln zu tun haben. Dazu passt, dass ständig jemand nach einer Zigarette greift.

Bis auf das Schlussbild agieren die von Marco Medved einstudierten Engelschöre – Chor und Extrachor des Theaters Bonn – mit der fulminanten Wucht ihrer Stimmen aus einem erhöhten abgeteilten Bereich des Parketts. So avanciert der Kampf des Bösen mit dem Himmlischen auch zu einer Stimmenschlacht, in der der Chor am meisten punktet. Fast entsteht der Eindruck, als müsse jeder freie Quadratmeter des Bonner Hauses für das opulente Aufgebot an Stimmen und Instrumenten genutzt werden. Posaunen, die an Jericho erinnern, sowie Trompeten erschallen aus der Seitenloge. Der Zwischenvorhang dient als Kulisse. Alden positioniert den jungen Komponisten davor, mit einer handschriftlichen Dankbarkeitserweisung gegenüber dem Vater.

Für die Bonner Wiederaufführung ist in Kooperation mit dem Verlagshaus Ricordi eine „nach den Quellen revidierte Ausgabe“ entstanden. Wie nah diese Ausgabe auch immer der Uraufführungsfassung sein mag - das BOB unter der musikalischen Leitung von Hermes Helfricht meistert Franchettis best of von Kompositionsstilen Leoncavallos, Mascagnis, Puccinis mit Anklängen auch an Arrigo Boito und Georges Bizet großartig. Helfricht gelingen auch die komplexen Übergänge von der geschlossenen Nummer zum Rezitativ und zurück sowie der streckenweise serielle Wechsel von Solisten und Chor, der die Abstimmung zwischen den unterschiedlichen musikalischen Blöcken auf eine nochmals diffizile Ebene hievt.

Das Sängerensemble mit gerade fünf Hauptpartien tastet und testet die Anforderungen der Partitur phasenweise bis zum Äußersten aus. Bis zu Grenzbereichen des vokalen Volumens und der Intensität des Ausdrucks. Eine durchgängige Legato-Kultur ist bei der Aufführung nicht zu entdecken. Am nächsten kommt ihr noch Peter Auty in der Titelpartie, der mit seinem glitzernden Timbre, das an den Tenor Neil Shicoff erinnert, und seiner leidenschaftlichen Stimmführung das Publikum erobert. Als charismatische Nefta ist die Sopranistin Svetlana Kasyan ein Lichtblick der Aufführung, insbesondere in den lyrischen Passagen und ihrem anrührenden Spiel. Markant und fordernd legt die Mezzosopranistin Tamara Gura die Rolle der Lidoria an. Mehr Assistenz als Substanz bietet die Figur der Loretta, die gleichwohl in der Stimme der Mezzosopranistin Khatuna Mikaberidze gut beheimatet ist. Der Bass Pavel Kudinov wird der dreifachen Aufgabe als Il Padre/Lucifero/Il Re di Brabante mit seinem virilen Organ mehr als gerecht, unterstrichen noch durch die spielerische Fähigkeit, diesen Rollen Statur und Profil zu geben.

Alle Mitwirkenden, auch das Regieteam, werden vom Publikum mit lautstarkem Beifall und Jubel minutenlang gefeiert. Die Ambition Fokus ´33 hat eine weitere gewichtige Etappe absolviert. Asrael ist zwar nicht das stärkste Stück dieser Reihe, aber zumindest ein aus seiner Zeit heraus respektables.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Thilo Beu

 

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