Wirres Regiekonzept opfert die aufklärerische Intention des Singspiels einer anmaßenden Ideologie

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Die Entführung aus dem Serail Wolfgang Amadeus Mozart Besuch am 20. Oktober 2023
Premiere am 17. September 2023

Theater Bonn Opernhaus

Wirres Regiekonzept opfert die aufklärerische Intention des Singspiels einer anmaßenden Ideologie

Unter einem Torso wird in der bildenden Kunst eine Statue ohne Kopf und Gliedmaßen verstanden. Anatomisch ein Akt der Willkür und ästhetisch häufig eine Zumutung. Ein solcher Torso ist zurzeit in der Oper Bonn zu erleben, mit Terminen bis Ende Dezember. Regisseurin Katja Czellnik eliminiert aus ideologischen Gründen aus Mozarts Deutschem Singspiel alle gesprochenen Zwischentexte und mit diesem Eingriff die Partie des Bassa Selim, eine reine Sprechrolle. Eine Anmaßung, für die das Wort rigide eine Untertreibung darstellt.

Zu sehen ist eine Umdeutung des Teutschen Singspiels als wichtigste Erscheinungsform des entstehenden Nationalgefühls unter dem Habsburger Reformkaiser Joseph II. in eine Revue im Stil des Französischen Jahrmarktheaters und der Opéra comique. Ein Affront, verbindet sich doch in der Entführung aus dem Serail erstmals das Singspiel mit der Stegreifkomödie und der Wiener Posse. Czellnik unterläuft alle aufklärerischen Intentionen der Vorlage, die aus der zeitgeschichtlichen Situation zu verstehen und ihr nur abzusprechen sind, wenn Ignoranz waltet. 

Nicht allein dies. Auf der Suche nach einer Antwort auf ihre aktuelle Frage Können wir ‚das‘ überhaupt spielen? und zur Unterfütterung ihrer Ambition, den „Chauvinismus in der europäischen Aufklärung“ zu entlarven, reibt sie der Bonner Kulturöffentlichkeit einen Befund unter die Nase, der es in sich hat. Sie will, heißt es in einem Text in den Programminformationen, „in Werken von angeblichen Vorreitern der Aufklärung wie Kant, Rousseau, Montaigne immer deutlicher einen unverhohlenen und offenen Hass gegen Andersdenkende zutage gefördert“ haben. Dieser Befund ist nicht dem Stück immanent, sondern ein Ergebnis ihrer „weiteren Recherche“. Letztlich dazu da, ihre Eingriffe in das Werk zu legitimieren.

Mit Joseph II. ist die Einführung der Religionsfreiheit für Protestanten, orthodoxe Christen und Juden, die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Abschaffung der Zensur verbunden. Kulturell die Förderung des Deutschen im Wiener Vielvölkergemisch, etwa durch populäre Bühnenwerke. So ist der Auftrag an den Komponisten des in Wien herausgekommenen Singspiels Bastien und Bastienne, zur Feier der Überwindung der Türken vor einhundert Jahren ein neues Werk für das Hoftheater zu verfassen, mehr als konsequent. Der 25-jährige sieht seine Chance, sich gegen die „Italiener“ Christoph Willibald Gluck und Antonio Salieri zu profilieren.

Er entscheidet sich in einer Phase, in der die Theater von einer Vielzahl orientalisch geprägter Stücke geradezu überschwemmt werden, darunter auch 1780 Lessings Nathan der Weise, für den Stoff der Operette Belmont und Constanze oder Die Entführung aus dem Serail von Christoph Friedrich Bretzner. In der Überarbeitung durch den Wiener Operninspizienten Johann Gottlieb Stephanie und Mozart selbst erlebt die Entführung 1782 im Hoftheater ihre Uraufführung. Sie wird, auch wegen der Musik alla turca und der Janitscharen-Elemente, die Erweiterung des klassischen Orchesters um Schlagwerk und fremdartige Klänge, begeistert aufgenommen. Erstmals wird Mozarts ästhetisches Manifest sichtbar, die Charakterisierung der Protagonisten durch eine dramatische Handlung und ihre psychologische Dimension.

Von Czellniks gedanklichem Überbau dürfte das Gros der Besucher keine Kenntnis haben. Bedrohliches kündigt sich freilich an, als ein auf der hinteren Bühnenwand prangendes Gemälde des französischen Rokokomalers  Jean-Antoine Watteau von Graffiti-Aktivisten malträtiert wird. Steigert sich, als sich vor der Ouvertüre der Darsteller des Osmin mit der Rezitation eines Textes von Rousseau präsentiert, der an die Stelle eines der eliminierten gesprochenen Einschübe tritt. Der Besucher erfährt Beliebiges von der „natürlichen Bestimmung“ der Frau, die traditionell mit ihrer Unterdrückung verbunden ist. Nach diesem Muster werden durch die gesamte Aufführung hindurch von unterschiedlichen Akteuren Texte vorgestellt, gelegentlich im Originalfranzösisch etwa von Montaigne. Es sind Berichte von kolonialistischen Gräueln der vermeintlich aufgeklärten Europäer gegenüber denin ihrer Sicht primitiven Barbaren muslimischen Glaubens.

Passend hierzu gibt es in Hank Irwin Kittels Ausstattung ein Dinner westlicher Eroberer in einem verschiebbaren Glaskasten, dem Landhaus des Bassa, unter aufgespießten Köpfen zu sehen, die an ihren Bärten und Turbanen unschwer als Orientalen erkennbar sind. Damit ist der Kompass des Grausamen geeicht.

Die Regisseurin setzt mit ihrem visuellen Ansatz auf das Rohe, das Grobe, das Obszöne. Je derber das Spiel als Spektakel und Klamauk anmute, notiert sie, „desto größer ist der Zwang, bislang völlig ungeahnte Nacht- und Schattenseiten in dieser unerbittlichen Konfrontation der Kulturen aufzudecken“. Darin trifft sie sich partiell sogar mit Mozart, dem daran liegt, mit seiner Entführung „recht viel lärmen“ zu machen, vor allem im Schluss. Entsprechend fällt das Panorama dieser Produktion aus, durch das sich die Handlung um die Pole Rache und Verzeihen bis zum finalen Vaudeville Nie werd‘ ich deine Huld verkennen zieht.

Die ständig wechselnden Bühnenbilder, die bunten Kostüme, die diversen Äxte, Messer und Zangen, die aus der Märchenwelt von Tausendundeiner Nacht stammen könnten, sind außerordentlich phantasievoll gefertigt und belegen den professionellen Standard der Werkstätten des Bonner Theaters. Bedauerlich nur, dass die komischen Elemente, Tanzeinlagen und circensischen Anleihen von der ungenierten Ausstellung von primären Geschlechtsorgangen und wackelnden Hinterteilen aus Stoff begleitet werden. Sie erinnern mehr an eine schlechte Karnevalssitzung als die, folgt man Czellnik, durchaus kultivierten Zustände im Anwesen des spanischen Renegaten. Damit soll offenkundig das Anarchische in der Konfrontation der beiden Kulturen gezeigt werden. In Anspielung wohl auch an das in vielen Briefen offenbar werdende Anarchische im Wesen Mozarts, mit dem sich Wolfgang Hildesheimer in seiner Mozart-Biographie tiefenpsychologisch auseinandergesetzt hat.

Dreh- und Angelpunkt des Spiels um kulturelle Über- und Unterlegenheit ist Osmin, der nun einzige Türke auf der Bühne. Sein Identitätswandel vom Sprecher aufklärerischer Sinnsprüche zu einem Schurken, der einerseits unheimlich, andererseits zum Lachen komisch wirkt, wird dadurch sichtbar gezeigt, dass er sich auf der Bühne mit einer wüsten Perücke und einem geschneiderten Embonpoint ausstaffiert, den er sich anschnallt. Tobias Schabel spielt diesen Osmin mit Wonne und immer am Rande der schaurigen Schadenfreude. Wie er in einer Seitenloge während seines Wutausbruchs Erst geköpft, dann gehangen einen Schweinskopf fachgerecht zerlegt, hat die Qualität einer köstlichen Satire. Die Wucht, die diese Figur ohne Maß und Ziel sängerisch verlangt, bringt Schabel allerdings nicht voll in die Waagschale.

Mozarts musikalischer Flirt mit dem Faible der Wiener für das Exotische ist zwar ein Singspiel, aber eineinhalb Jahre nach dem Idomeneo schon ein Werk, das nach Höherem strebt. Es ist keineswegs eine Laune des Tages, dass sich Gluck für die Entführung einsetzt und auf eine Sonderaufführung dringt. Dies wird vor allem in der Anlage der Gesangspartien des Seriapaares Belmonte und Konstanze im Unterschied zum Buffopaar Blonde und Pedrillo deutlich.

Die Partie der Konstanze gilt mit ihren drei großen Arien in Ausmalung unterschiedlicher Seelenzustände nicht von ungefähr als die schwierigste aller Sopran-Partien in Mozarts Opern. Lisa Mostin, mit Trippelschritten im Reifrock bisweilen wie eine Puppe unterwegs, gibt ihr in Spiel, Bewegung und Intonation berührendes Profil. Ihre von Mozart explizit geforderten dramatischen Koloraturen meistert sie souverän. Doch eignet sich ihr Timbre nur bedingt, die Innigkeit auszustrahlen, für die ihre vom Trennungsschmerz geprägte Arie im ersten Akt Ach ich liebte, war so glücklich das Maß aller kommenden Dinge ist.

Belmontes Arien mit ihrer schwärmerischen Attitüde, schmelzenden Innigkeit und den betörenden Koloraturen weisen nicht den wohlhabenden Edelmann aus, den es in die Hände der Piraten verschlagen hat. Vielmehr einen Menschen, der Gefühle zeigt. Manuel Günther gestaltet ihn mit jugendlicher Leichtigkeit und empathischer Zurückhaltung, bei der auch die Pausen eines beseelten Ein- und Ausatmens ihre Chance bekommen. Die Blonde der Cathrin Lange, angetan mit einer aberwitzigen Perücke in Pink, kommt mit ihrem temperamentvollen Sopran Mozarts Idealtypus der Soubrette ziemlich nah. Es ist ein großer Spaß, ihr zuzusehen, wie sie mit Witz und Courage Osmin in die Parade fährt.

Im Gespann mit dem Pedrillo des Tae Hwan Yun bietet die Aufführung ein Buffopaar auf, das einen echten Kontrapunkt zu dem „hohen“ Seriapaar bedeutet. In der Rolle des Dieners Belmontes müht sich der Tenor mit großem Engagement um plakative Charakterisierung, erreicht aber nicht die zarte melodische Linie, die Mozart dieser Figur auf die Kehle geschrieben hat. Echtes Mozart-Glück, wenn auch selten gibt es indes auch in dieser Aufführung. So im Quartett Ach Belmonte, ach mein Leben im Finale des zweiten Aktes.

Das Beethoven Orchester Bonn mit Hermes Helfricht am Pult hat sich, wie aus dem Graben zu vernehmen ist, mit der Partitur in den Proben richtig angefreundet. Es trifft die eleganten wie die robusten musikalischen Linien, die eben „lärmen machen“ sollen, vorzüglich. Dieser Form passt sich der von Marco Medved einstudierte Chor mustergültig an, wobei offenbleibt, ob trotz oder gerade wegen der unglücklichen Maskeraden, die ihm die Regie abverlangt.

Mozart macht in Wien kein Geheimnis aus seiner Unzufriedenheit mit dem Libretto und spricht sich für den Primat der Noten aus, nennt „die Poesie der Musik gehorsame Tochter“. Czellnik nimmt diese Steilvorlage für eine Bestätigung ihrer Textstriche. Nur, sie traut nicht allein der Geschichte nicht, sondern anscheinend auch Mozarts Musik nur bedingt, lässt seinem in Töne gefassten Beziehungsgeflecht nicht den erforderlichen Raum zur Entfaltung. Selbst die berührendsten Arien und Duette werden auf der Bühne fortlaufend mit Gags, Gehopse und Geplänkel konterkariert, wobei das Spektrum vom lustigen Einfall bis zur Billignummer und zum Primitiven reicht.

Unabhängig vom ideologischen Kontext markiert dieser Aktionismus der Szene das Problematische der Inszenierung, das tiefer liegt, tief im Bereich der aktuellen gesellschaftlichen Kommunikation. Eine Mehrheit von jungen Menschen, auf die die Regisseurin offenkundig schielt, sucht täglich viele Stunden die Oberflächenreizungen digitaler Tools. Ihre Aufmerksamkeit wird von Smart Phones, Internet-Angeboten, Social Media, digitalen Games etc. beansprucht und zum Nachteil reflexiver Zeit- und Inhaltsbudgets beherrscht.

Exakt an die Internetaffirmation der Generation Z knüpft Czellnik an, was auch offenkundig funktioniert. Reaktionen aus dem mit kompletten Schulklassen erfreulich zahlreich besetzten Spektrum der jungen Besucher scheinen diesen Eindruck zu belegen. Am stärksten lösen bei ihnen die diversen Aktionen Reaktionen aus, bis hin zu lautstarken Kommentaren. Prima la musica? Nun ja.

Am Ende brandet allenthalben lautstarker Jubel auf, der allen Beteiligten gilt. Nach verschiedenen Pressekritiken der Premiere war Czellnik Adressatin heftiger Buh!-Salven, wie sie die Oper Bonn wohl noch nie zuvor erlebt hat. Da jetzt nach dem Schlussvorhang auf der Bühne niemand für das Regieteam steht, bleibt die Frage Spekulation, wie ein vorwiegend junges Publikum die Inszenierung gesehen hat. Schade eigentlich.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Emma Szabó

 

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