Woke um jeden Preis unter Missachtung eines Klassikers der Operette gefällt dem Publikum

Xl_eine_nacht_in_venedig_1 © Copyright Foto: Karl und Monika Forster

Eine Nacht in Venedig Johann Strauß Besuch am 25. November 2023 Premiere

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Woke um jeden Preis Das Publikum stört sich kaum an der Missachtung gegenüber einem Klassiker der Operette

Eine Nacht in Venedig, die 1883, knapp zehn Jahre nach der Fledermaus herausgekommene Komische Operette von Johann Strauß, offeriert prinzipiell alles, was das so beliebte wie bespöttelte „kleine Fach“ des Musiktheaters zu bieten hat. Einen mit Sehnsuchtsmythen gepflasterten Schauplatz, eine nach bester Buffo-Manier geschneiderte Verwechselungskomödie, mit dem Venezianischen Karneval eine Folie für rauschende Feste und lockere bis schlüpfrige Intrigen, ein Füllhorn romantischer Musik voller Walzerseligkeit und virtuos instrumentierter Gesangsnummern.

Die Nacht in Venedig jetzt am Musiktheater im Revier, gespielt in der heute üblichen Bearbeitung von Erich Wolfgang Korngold von 1923, unterscheidet sich leider massiv von der Vorlage, zu der einst Camillo Walzel und Richard Genée das Libretto beisteuern, von dem freilich am Gelsenkirchener Haus lediglich die Liedtexte übrigbleiben. Was die Herrschaft und das Dienstpersonal zwischen den vokalen Nummern und den wechselnden Szenen sprechen, ist eliminiert und zugunsten einer Gelsenkirchener Fassung, hier „Operettenfantasie nach Johann Strauß“ genannt, durch eigene Dialogtexte ersetzt. Diese, in befremdlicher Aktualisierungsattitüde zwischen MeToo-Bewegungen, Gender- und Geschlechter-Kampf flirrenden Worthülsen verfolgen ein einziges, ein ideologisches Ziel.

Angestrebt wird mit der von Michael Schulz, dem Hausherrn und Regisseur, verantworteten Inszenierung, dem Ganzen einen woken Anstrich zu vermitteln. Fortschrittlich, modern, moralisch, wenn man unter woke eine Haltung versteht, gegen Diskriminierungen aller Art zu stehen, seien sie sozial, sexistisch, rassistisch. Um sich sodann auf der linksliberalen Seite der Gesellschaft auserwählt zu fühlen und von all jenen abzuheben, die noch im alten Denken verfangen sind oder so erscheinen. Dass mit dieser Regiewillkür zugleich die Missachtung eines künstlerischen Werks verbunden sein kann, mag dann nicht mehr wirklich in die Waagschale fallen.

Schulz ersetzt den Palazzo von Guido, des Herzogs von Urbino, durch ein Hotel und ein Ristorante di Venezia, wo sich die zum Maskenfest Geladenen beim Spezialisten für italienische Pasta, dem Koch Pappacoda, treffen. Hierfür hat Beata Kornatowska die Adaption einer Trattoria mit viel Liebe zum Detail entwickelt. Nur stimmt dies nicht so ganz. An der Tür zum Ristorante verrät ein Schild, dass dieses Closed sei. Im Venedig vor sagen wir 250 Jahren hätte man mit Sicherheit ein Chiuso am Eingang angebracht.

Mit dem Fortschritt der Handlung gewinnt die Ansammlung weiterer Schauplätze auf der Bühne an Bedeutung. Eine Bar im Stil der 1930-er Jahre auf einem erhöhten Podest, von wo aus sich trefflich in das Geschehen hineinrufen lässt. Daneben eine Drehtür, die in das Hotel führt. Davor eine Sitzgruppe aus dem Kaufhaus, die aber offenkundig dem Herzog für seine Amouren reicht. Ein Flügel vorn links, auf dem ein Pianist, Mateo Peñaloza Cecconi, die meisten der gesprochenen Dialoge begleitet. Auf dem sich Lina Hoffmann in der Rolle der Barbara Delacqua in der Manier von Marlene Dietrich im Film Der blaue Engel positioniert. Intonieren darf sie allerdings den bekannten Titel Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben? aus der Operette Eine Frau, die weiß, was sie will von Oscar Straus.

Im Zentrum, zum Teil hinter der beweglichen Küche, eine in zwei Auf- und Abgänge gegliederte Freitreppe, eine ideale Plattform für den von Alexander Eberle glänzend eingestellten Chor sowie die Statisterie, die in der Kellner-Szene einen spektakulären Auftritt hat.

Renée ListerdalsKostüme sind phantasievoll, bunt und akzentuieren die feministische Attitüde der Ausstattung. Ausgenommen davon ist Guidos Outfit, das ihm bis in das triviale Schlussbild des Kostümtausches unter dem Kommando der Senatorinnen das Image eines Vorstadtluden verleiht. Ferner die Aufmachung des Gitarristen und Straßenmusikers Sebastian Schiller in der Partie des an Bühnenpräsenz gewinnenden Enrico Piselli, der auch aus einem Stadtteil im Gelsenkirchener Norden in die Aufführung geraten sein könnte. Seine Songs sind natürlich nicht aus der Welt des Johann Strauss. Sondern aus der des Pop wie Sex Bomb von Tom Jones. Immerhin trägt er mit Azzurro des Italo-Barden Adriano Celentano vor dem Einstieg der Neuen Philharmonie Westfalen in die Ouvertüre zur Italianatà der Aufführung bei.

Wie die zahlreichen Bearbeitungen und Ergänzungen des Werks, die schon nach der Berliner Uraufführung im Übergang zur Wiener Erstaufführung belegen, ist Eine Nacht in Venedig außergewöhnlich offen für Einfälle quasi von der Einwechselbank. Schulz nutzt das weidlich, unter Missachtung der Authentizität des Stücks. Warum sich Piselli und Pappacoda leidlich gekonnt am sächsischen Idiom versuchen, ist exemplarisch für ein Regiekonzept, das mit Wonne über die Stränge schlägt, um eines zu sein, anders.

Die Konvention des Karnevals, die gesellschaftliche Hierarchie aufzuheben und die Geschlechtergrenzen zum Fließen zu bringen, wird in dieser Inszenierung zur generellen gesellschaftlichen Maxime. Was im Karneval auf Zeit toleriert wird, die Überwindung des bestehenden Machtsystems der Geschlechter, soll nach Aschermittwoch zum Normalzustand avancieren. Natürlich geht das nicht ohne eine Kampfansage an die Männerherrschaft. Der Regisseur markiert diese Haltung unter Rückgriff auf das wilde Armatae face et anguibus aus Antonio Vivaldis Oratorium Juditha triumphans. Üblicherweise eine Soloarie der über die Barbarei des Generals Holofernes obsiegenden schönen Witwe aus dem Alten Testament, mit dem abgetrennten Kopf des Holofernes in der Hand. Hier ein Ensemblestück von fünf Frauen und Sängerinnen, Furien und Vorkämpferinnen einer neuen Zeit.

Dieses mächtige Ausrufungszeichen ist aber keineswegs ein gesuchter Kontrast zum folgenden Lagunenwalzer, besser bekannt als Soloarie des Herzogs Ach, wie so herrlich zu schaun, sind all die reizenden Fraun. Es hätte aber ein dramaturgisch trefflicher werden können, wäre es der Regie gelungen, eine Verbindung zwischen den Geschlechterkulturen verschiedener Jahrhunderte zu konstruieren. So bleibt es bei Me-too- und Genderanspielungen, wokem Klamauk um Geschlechterrollen, also all das, was sich derzeit in unzähligen Inszenierungen breit getreten im deutschen Musiktheater findet.

Kinder, macht Neues,forderte Richard Wagner gegen Ende seines Lebens. Es scheint geboten, an diesen Ruf zu erinnern.

Das Ensemble der Sängerdarsteller schafft es mit großem Engagement, einen unterhaltsamen Abend auf die Beine zu stellen, wobei die weiblichen Stimmen den Reiz des Abends ausmachen. Lina Hoffmann in der Rolle der Barbara, Bele Kumberger als Ciboletta und Margot Genet als Annina überzeugen auch mit Spielwitz und Elan. Anke Sieloff in Personalunion Senator Barbaruccio und seine Frau Agricola muss sich weitestgehend mit einer Sprechrolle begnügen. Im furiosen Vivaldi-Zitat ist sie allerdings mit von der Partie.

Benjamin Leeals Barbier Caramello kommt nicht mit einer Gondel auf die Bühne, sondern auf einem simplen Faltrad. Sein Outfit deutet ein bevorstehendes Training in einem Fitness-Studio an. Den etwas unvorteilhaften Eindruck macht er mit seinem schön timbrierten Tenor mehr als wett. Er ergänzt sich vorzüglich mit Martin Homrich als veriler Pappacoda  mit Kochmütze und Kochlöffel. Zum wahren Vergnügen gerät Homrichs Papageno-Papagena-Paraphrase aus Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte zusammen mit Annina.

Eine weitere Regie-Einspielung aus dem Repertoire der Oper präsentiert Urban Malmberg mit einem Auszug aus der Arie Ella giammai m'amo aus Giuseppe Verdis Don Carlo. Sie eignet sich durchaus, die Einsamkeit des Senators Bartholomäus Delacqua zu illustrieren, sprengt allerdings die musikalische Architektur der Partitur. Ansonsten ist der Bariton mit ständigen lauten Barbara!-Rufen zur Belustigung des Publikums auf der Suche nach seiner Gattin, die allerdings Pläne außerhalb ihrer Ehe hat.

Eine Enttäuschung ist der Guido von Urbino des Adam Temple-Smith. Sein in der Höhe heftiger Tenor ist unausgewogen, pelzig in der Mittellage, geprägt von einem wenig natürlichen Vibrato und ohne den Schmelz, der der Rolle des Herzogs immanent ist. An die Stilbildenden in dieser Partie, etwa Richard Tauber, Helge Roswaenge und Nicolai Gedda, mag man da gar nicht denken. Das Orchester mit dem temperamentvollen Giuliano Betta am Pult verbreitet Strauss-Elixiere immer dann, wenn es dazu Gelegenheit bekommt.

Die Besucher im praktisch voll besetzten Haus zeigen mit anhaltendem Beifall und am Ende stehend an, wie gut sie sich unterhalten haben. Dass das Publikum mit Begeisterung reagiert, ist kein Beweis für die Qualität, wohl aber für das Niveau der Aufführung. Gleichwohl, der Karneval im Revier mag kommen.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: Karl und Monika Forster

 

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