Bei Richard Wagners „Parsifal“, der jetzt an der Wiener Staatsoper traditionellerweise um Ostern wiederaufgenommen wurde, sollte sich der Opernbesucher hauptsächlich auf die musikalische Seite konzentrieren und der herrlichen Musik lauschen und die triste Szene mehr oder weniger ignorieren. Denn Kirill Serebrennikov lässt in seiner Inszenierung aus 2021 das Bühnenfestweihspiel hauptsächlich einem hässlichen Gefängnis spielen. Man versteht zwar, dass der russische Regisseur seine biografische Vorgeschichte hat: Er wurde von der russischen Justiz verfolgt, musste systembedingt viel Zeit im Gefängnis und im Hausarrest verbringen. Aber dieses zur zentralen Metapher der Aufführung zu machen, trägt keinen Opernabend, bringt keinen neuen Erkenntnisgewinn, funktioniert einfach nicht und spießt sich an allen Ecken und Enden.
Und so sieht man wieder diese öden, einstöckigen Gefängnistrakt voll Tristesse mit vergitterten Zellen, turnenden Häftlingen und stetigen brutalen Gewaltakten: Es sind die Gralsritter, natürlich in hässlicher Häftlingskleidung, die hier in ihrer Gedankenwelt eingesperrt sind. Auch Gurnemanz, der sich ständig selbst ritzende, blutverschmierte Amfortas und später auch Parsifal sind offensichtlich Häftlinge. Parsifal hat keinen Schwan, sondern einem Mithäftling mittels Rasierklinge die Halsader durchgeschnitten, als dieser sich ihm unsittlich nähern wollte. Dies sieht man detailliert grausam auf drei großen Projektionsflächen über der Bühne. Apropos Projektionen: Fast ständig flimmern diese zusätzlich, und lenken von der eigentlichen Handlung ab: Massige Körper von Häftlingen in allen Lebenslagen mit Tätowierungen von Symbolen aus der Geschichte werden gezeigt, wie Speere, Kelche, eine Dornenkrone aus Stacheldraht etc. Oft wird der junge, in Schneefeldern, Betonbunkern oder im Gefängnishof herumstreifende Parsifal gezeigt. Apropos junger Parsifal: Hier kam der Regisseur auf die nicht mehr neue und schon oft praktizierte Idee die Titelfigur zu verdoppeln, was nur teilweise funktioniert: Der „alte“ Parsifal erinnert sich meist an der Rampe singend und kaum agierend, an seine Jugend und seinen ehemaligen Gefängnisaufenthalt. Und so fungiert der „junge“ Parsifal, der vom Schauspieler Nikolay Sidorenko überzeugend dargestellt wird, als Alter Ego. Er wird von Mithäftlingen zusammengeschlagen, rennt hektisch oder turnt sinnlos herum und lässt sich von Kundry beinahe verführen. Apropos Kundry: Diese wird als eine kühle Reporterin, die ständig fotografierend eine Gefängnisreportage für ein Magazin „Schloss“ macht aber auch Substanzen einschmuggelt und vom Schicksal des jungen Parsifal schwer beeindruckt ist, dargestellt. Und so kehrt sie im zweiten Akt in die Redaktion statt in ein Zauberschloss zurück, wo die Blumenmädchen auch Mitarbeiterinnen sind und alle hinter dem Jungen her sind. Geleitet wird das Magazin vom unsympathischen Medienmogul Klingsor, den sie nach der missglückten Verführungsszene zum Schluss einfach erschießt. Speer braucht Serebrennikov natürlich auch keinen, wozu auch? Bei der Gralsenthüllung wird ein Kelch aus einem Postpaket für einen Häftling, bei der Kontrolle durch die Gefängniswärter ausgepackt und hochgehalten. Zum Finale taucht der Gral überhaupt nicht mehr auf, da werden stattdessen von Parsifal alle Zellentüren geöffnet und den vermutlich politischen Gefangenen wird als schöne Schlussgeste die Freiheit geschenkt. Die bekehrte Kundry sinkt nicht tot zu Boden, sondern humpelt mit Amfortas ins Licht. Nur Parsifal bleibt zurück. War das alles nur ein Traum? Es ist müßig sagen zu müssen, dass sich der originale Text kaum mit diesem Konzept verträgt.
Musikalisch kann man hingegen mehr als zufrieden sein, vor allem bei dieser Besetzung: wie bei der Premiere singt auch diesmal Elina Garanca wieder die Kundry. Die lettische Mezzosopranistin ist kein reines Leidensgeschöpf, sondern fasziniert als modern gekleidete, ergraute Schöne, die mit vielen Farben und Nuancen ihres wunderbaren Organs singt. Neu ist Daniel Frank als Titelfigur, mit etwas zu wenig Präsenz únd Durchschlagskraft aber allen Spitzentönen wieder seinen samtigen Tenor samt wunderbarer Piani. Auch Günther Groissböck gibt bei seinem Rollendebüt einen ungemein wortdeutlichen, klar konturierten und edlen Gurnemanz und hat für die lange Erzählrolle eine tolle Kondition und auch noch Zeit seinen durchtrainierten Körper bei einigen Liegestützen mühelos zu zeigen. Michael Nagy ist ein als stark leidender Amfortas mit hoher Stimmkultur. Werner van Mechelen gibt einen bösen, kraftvollen Klingsor. Aus dem Off hört man Wolfgang Bankl als profunden Titurel. Ideal besetzt sind auch die vielen kleineren Rollen. Homogen und wohlklingend vernimmt man den Chor und Extrachor der Wiener Staatsoper
Das bestens disponierte Orchester der Wiener Staatsoper unter Alexander Soddy erzeugt einen fein abgestuften Luxusklang von Wagners Klangwelten. Vor allem die herrlichen, hochemotionalen Schlüsselstellen werden breit ausgekostet und das Sängerensemble nie zugedeckt.
Dr. Helmut Christian Mayer
06. April 2024 | Drucken
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