Exquisites Sängerensemble um Countertenor Orliński sorgt für eine Sternstunde der Barockoper

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Tolomeo, Rè di Egitto Georg Friedrich Händel Besuch am 9. Mai 2023 Einmalige Aufführung

Elbphilharmonie Hamburg

Exquisites Sängerensemble um Countertenor Orliński sorgt für eine Sternstunde der Barockoper

Was der Gesang so Wunderbares erweckt und angeregt, soll heute er enthüllen und mit Vollendung krönen. So beschwört der Landgraf den Zauber der Kunst im Tannhäuser. Derzeit wird Richard Wagners Opus in der Staatsoper am Jungfernstieg gegeben. Nicht weit entfernt von ihr, in der Elbphilharmonie, findet die Vollendung des Wunderbaren im Gesang auch in der konzertanten Aufführung von Georg Friedrich Händels Tolomeo, Rè di Egitto im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg eine glänzende Heimstatt. Exzellente Sänger und die Barockspezialisten des Ensemble Il Pomo d’Oro unter seinem ersten Gastdirigenten Francesco Corti sorgen zum zweiten Mal nach Alcina mit Les Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski im Februar für Händel-Glück im großen Saal des Prachtbaus an der Spitze des Großen Grasbooks.

Das Dramma per musica auf eine Textdichtung von Nicola Francesco Haym nach Carlo Sigismondo Capeces Stück Tolomeo et Alessandro, ovvero La corona disprezzata mit seinem Protagonisten zwischen Tod und Leben, Suizid- und Zukunftsgedanken, Wahn und Wirklichkeit ist 1728 für Händel eine perfekte Vorlage. Kurzfristig sucht er nach den erfolgreichen Vorgängern Riccardo Primo undSiroe eine neue Zugnummer für das finanziell angeschlagene und beim Publikum nicht mehr sonderliche gefragte Haymarket-Theater in London.

Der Dreiakter ist das letzte von fünf Unterfangen Händels, Partien gleichgewichtig auf das spektakuläre Dreigestirn des Hauses, den Mezzosoprankastraten Francesco Bernardi, genannt Senesino, und die Soprandiven Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni zu verteilen. Der kurzzeitige Erfolg von Händels vorletzter Oper unter seinen rund 40 Werken dieses Genres kann indes den Niedergang des „Geschäftsmodells“ Oper nicht aufhalten, auf den der Komponist und Impresario mit einem Spurwechsel ins Oratorienfach antwortet. 

Die Titelfigur, Pharao aus dem Geschlecht der Ptolemäer, König von Ägypten und zeitweise Zypern, regiert zusammen mit seinem jüngeren Bruder Alexander und seiner herrschsüchtigen Mutter Cleopatra, die nicht mit der Geliebten Cäsars, einer Lieblingsgestalt diverser anderer Opern, zu verwechseln ist. Getarnt als Hirte Osmin, will sich Tolomeo, von Cleopatra ins zypriotische Exil getrieben, das Leben nehmen, als er im letzten Augenblick auf einen Schiffbrüchigen trifft, in dem er Alexander erkennt, vor dem er sich auf der Flucht befindet.

Zwei Frauen steigern den Konflikt um Macht und Herrschaft. Das Drama eskaliert, als Elisa, Schwester des Zypernkönigs Araspe, die Tolomeo begehrt, diesen vor eine brutale Alternative stellt. Entweder soll Seleuce, die fälschlich für ertrunken gehaltene Frau Tolomeos, verstoßen werden oder beiden der Tod bestimmt sein. Nach etlichen Wirren endet das am klassischen Theater orientierte Drama im Lieblingsfinale der Barock-Oper, dem lieto fine.

Händel gibt seinem Tolomeo durch Verzicht auf erhöhten Aufwand und übliche Spezialeffekte der Ausstattung sowie durch Konzentration auf lediglich fünf Akteure einen fast schon puristischen kammermusikalischen Charakter, was Il Pomo d’Oro in die Karten alias Noten spielt. Es gibt keinen Chor und bei Ausnahme von zwei Hörnern keine Blechbläser, die aber bei ihren wenigen Einsätzen von Christian Binde und Ricardo Rodriguez großartig in Szene gesetzt werden. Für den Händel-typischen Rhythmus sorgen insbesondere zwei Cembali. Sie sind vis à vis gestellt und werden von Maria Shabashova sowie Corti, der phasenweise in Doppelfunktion agiert, in der Weise gespielt, dass sie wie eine Einheit zu vernehmen sind, zumeist jedenfalls.

Händels weiterer fast völliger Verzicht auf obligate Instrumente zur Charakterisierung von Affekten fokussiert die Aufmerksamkeit auf die Singstimme, wodurch der Inhalt der Arien vornehmlich mit der vokalen Aussage vermittelt wird. Diese Vorzeichen lassen Tolomeo zu einem Tempel der Arienkunst werden, schön und erhaben wie Marmor, lyrisch und introspektiv wie ein Wasserfall im Morgenlicht. 

Jakub Józef Orliński ist in der Titelpartie eine Idealbesetzung, zumal er mit ausgefeilter Mimik und elementarer Körpersprache nicht nur sängerische Qualitäten in die Rolle einbringt. Der polnische Shooting Star der europäischen Counterszene verkörpert den Antihelden mit geschmeidiger Sangeskultur, imponierender Ausdruckskraft und großräumiger Tessitura. Seine Stimme vermag alle Gefühlsregungen des vereinsamten resignierenden und dann wieder euphorisierten Mannes wiederzugeben, erklimmt mühelos schwindelerregende Höhen und steigt nicht minder souverän in eine Tiefe hinab, in der ein veritabler Bariton zuhause wäre.

Atemlose Stille herrscht im Saal, als Orliński im Lamento an den „lieben Schatten“ seine Todeserwartung in der Annahme ausdrückt, er habe einen von Elisa gesandten Giftbecher geleert, der in Wahrheit lediglich einen Betäubungstrank enthält. Ein Bravourstück ist im zweiten Akt die Paraphrase, in der er den Ton mit großer Vokalkraft an- und nach einem Verweilen auf dem Zenit wieder abschwellen lässt. Senesino hätte es vermutlich nicht großartiger gestaltet. Ergreifend auch Orlińskis Seelencredo nach dem Wiederfinden von Seleuce, die er tot geglaubt.

Mélissa Petit ist Seleuce, die Tolomeo als Schäferin verkleidet sucht und unverhofft wiederfindet, mit lyrischer Innerlichkeit und virtuosen Koloraturen. Den seelischen Qualen einer großen fast schon aufgegebenen Liebe gibt sie vehementen Ausdruck. Wenn sie von der brechenden Welle singt, die „mit ihren Tropfen um meine Liebe weint“, erreicht Händels Personencharakteristik einen bezwingenden Grad. Als Quasi-Gegenpol zeichnet die Mezzosopranistin Giuseppina Bridelli Elisa mit glühender Strenge. In Se un solo e quel core offenbart sie das krude Innere eines Menschen, der seine Macht nutzt, um sich zu nehmen, was er begehrt.

In der Schlüsselrolle des Alessandro überzeugt der Countertenor Paul-Antoine Bénos-Djian mit seinem geschmeidigen wohlklingenden Organ und einem Timbre, das zu seinem Counter-Kollegen in der Titelpartie gut kontrastiert. Ohne seine Läuterung wäre das glückliche Ende der Oper gar nicht möglich. Er verzichtet auf seine Thronanwartschaft und erkennt seinen Bruder nach dem Tod Cleopatras als rechtmäßigen Herrscher an. Der Bass Andrea Mastroni ist ein wahrhaft königlicher Araspe. Sarò giusto e non tiranno, verkündet er mit sonorer Geläufigkeit in der Attitüde eines Herrschers, dem Händel die Selbstüberschätzung trefflich auf die Gurgel komponiert.

Nach der Pause bleiben einige Plätze leer. Das ist auch deswegen bedauerlich, da Händel die sängerischen Effekte durch Variation der begleitenden Instrumente systematisch wie eine am Reißbrett entstandene Choreographie der Noten steigert. Flöte, Oboe, Fagott, Celli, auch im Pizzicato-Stil, Theorbe gelangen so zu Mosaiken der vollendeten Kunstfertigkeit.

Das Publikum unterstreicht den Eindruck einer Sternstunde der Barockmusik durch lauten anhaltenden Jubel, Bravi!-Rufe und heftige Pfiffe, die in diesem Fall als Komplimente zu deuten sind. Händel, der sich in jungen Jahren in Hamburg nicht gerade auf einer Karriereleiter sieht und sein Brot als Cembalist und mit Dirigierverpflichtungen verdient, wäre als heimlicher Beobachter gewiss überrascht gewesen, vermutlich sogar gerührt.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Daniel Dittus

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