Grandioses Verismo-Kino: Filmkunst und Operndrama verbünden sich zu einer spektakulären Allianz

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Umberto Giordano Siberia Besuch am 12. März 2023 Premiere

Theater Bonn Opernhaus

Grandioses Verismo-Kino: Filmkunst und Operndrama verbünden sich zu einer spektakulären Allianz

Liebhaber der Oper bringen den Komponisten Umberto Giordano vornehmlich mit seiner Revolutionsoper Andrea Chenier in Verbindung, aus dem die Bravourarie vieler Tenöre Un di all’azzuro spazio stammt. Zwei Jahre nach diesem Durchbruch 1896 in der Mailänder Opernszene gelingt dem Verfechter des Verismus mit Fedora ein weiterer großer Erfolg. Auch aus diesem Werk sticht eine Tenorarie hervor, Amor ti vieta, die die Karriere Enrico Carusos, des Sängers der Uraufführung, begleitet.

Keine einzige der übrigen Opern Giordanos, selbst nicht Il Re, seine letzte, äußerst originelle Komposition von 1929, schafft es in der Folgezeit ins Repertoire. Darunter ist auch die Musiktragödie Siberia. Ihr verhilft das Theater Bonn in Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen 120 Jahre nach der Mailänder Uraufführung in einer spektakulären Inszenierung zu neuerlicher Aufmerksamkeit. Ob sich aus dieser einmaligen Renaissance mehr entwickelt, sollte sich in den nächsten Jahren entscheiden. Hierbei dürfte das Publikum einen gehörigen Anteil haben.

Giordano ist neben Ruggiero Leoncavallo, Pietro Mascagni, Giacomo Puccini einer der führenden Vertreter einer den Realismus favorisierenden giovane scuola. Sie will nach Giuseppe Verdis Melodramen unter dem Einfluss Richard Wagners sowie des französischen Theater-Naturalismus das „wirkliche“ Leben „authentisch“ auf die Bühne bringen, auch in seinen abgründigen, gar hässlichen Seiten. Der Komponist weiß bei Siberia mit Luigi Illica den einflussreichsten Librettisten des Verismo an seiner Seite. Illica hat sich als Textdichter von Tosca und Madama Butterfly profiliert, verdichtet in Siberia die Geschichte einer russischen Kurtisane zur Zarenzeit zu einem Melodram. Es vereint die emotionalisierenden Elemente einer Kolportage und einer Romanze mit den Merkmalen eines heroischen Schauerstücks.

Die Partitur Giordanos verfügt nicht über die Strahlkraft des Chenier-Furiosos. Es fehlt an rauschhaften Highlights vergleichbar Maddalenas La mamma morta, der zweiten großen Arie in Andrea Chenier. Über Illicas Dichtung lässt sich derlei in keiner Weise sagen. Es ist ein Meisterwerk der Opernsprache, präzise in der Wortwahl, farbenreich im Ausdruck und großartig im Können, mit wenigen Worten ein ganzes Reich an Eindrücken heraufzubeschwören. So die Ödnis und Erbarmungslosigkeit der sibirischen Steppe, diesen konturlosen „Sarg“ unter dem Schnee oder in brütender Hitze. Giordano verarbeitet die Bildsprache in eine mitreißende Tenorarie.

In dieses Sibirien, Inbegriff des Gulags, des Zwangsarbeitslagers des russischen, später sowjetischen Despotismus, verschlägt es die umschwärmte Kurtisane Stephana der Liebe zu Vassili wegen aus der höchsten Gesellschaft St. Petersburgs. Sie folgt freiwillig dem jungen Offizier, der sich gegen Fürst Alexis, ihren Gönner, auflehnt und im Kampf tötet, in das Straflager in den Minen des Transbaikal. Auch Gleby, Stephanas früherer Zuhälter, ist hierhin verbannt worden. Nach Jahren im Elend und einer gescheiterten Flucht in der Osternacht stirbt die von einer Kugel tödlich getroffene Stephana in den Armen des Geliebten.

1903 sind Giordano und Illica auf der Suche nach einem Bühnenplot, der die Resonanz der Vorgängererfolge zumindest erreichen soll. Eine Ächtung des destruktiven Absolutismus ist nicht ihre primäre Intention. Sie ist aber zumindest latent in Illicas Dichtung angelegt. Qualen, immer Qualen taucht im dritten Aufzug in den deutschen Übertiteln einer Arie Stephanas auf. Dieser humane Aspekt ist angesichts des Datums der Bonner Premiere nicht unerheblich.

Im Juli 2022 kommt die Inszenierung des russischen Regisseurs Vasily Barkhatov erstmals im Bregenzer Festspielhaus heraus. Zu einem Zeitpunkt, da der Überfall der Ukraine durch den russischen Aggressor schon seit fünf Monaten Politik und Medien beherrscht. Jetzt, zum Zeitpunkt der Bonner Premiere, wird der Krieg, der mit Russland, seiner Geschichte und Kultur, mit allem Russischen schlechthin, assoziiert wird, schon über ein Jahr als Weltbedrohung empfunden. Barkhatovs Bregenzer Grundidee, seiner Inszenierung eine Semi-Aktualität einzuziehen, ist so noch eine Spur plausibler.

Die intelligent konzipierten Bühnenbilder des Ausstatters Christian Schmidt sowie die zeitimmanenten Kostüme von Nicole von Graevenitz fokussieren auf Milieutreue. Warme Farben, behagliche Möbel und Kristalllüster kennzeichnen das vornehme Stadtpalais des Fürsten. Bedrückend „realistisch“, wie aus einem Roman Kafkas oder Solschenizyns abgeleitet, mutet das Zentralarchiv des Zwangslagers mit seinen sich bis zur Decke stapelnden Akten und Zettelkästen an. Ebenso die als Propagandafläche aufgezogene Rückwand einer Großbürokratie im Stile des realen Sozialismus. Das Lager lässt im Hintergrund einen vorbeifließenden Strom erkennen, vorn Schlafplätze für Minenarbeiter und den Zugang zu einem Stollen, durch den die Liebenden ihre Flucht wagen. Der Clou des Bühnenbilds ist eine verblüffende Verwandlung oder Erweiterung von Räumen, dank ausgeklügelter Verschiebe- und Projektionsmodule. So rückt die sibirische Steppe nah an die Lagerinsassen heran, was ihre desolate Lage noch einmal illustriert.

Barkhatovs Inszenierung bleibt freilich nicht in den Bildern der Zarenzeit stehen, korrespondiert indirekt mit der Gegenwart von Krieg und Frieden. In Umsetzung des Konzepts der Semi-Aktualität ist der Handlungsebene der Oper eine zweite eingezogen, für die der Videospezialist Christian Borchers zusammen mit den Filmproduzenten Pavel Kapinos undSergey Ivanov eine Rahmenhandlung auf Basis des Mediums Film erfunden hat. Von Rom bricht 1992 die Tochter von Stephana und Vassili, gespielt von Clarry Bartha,nach Russland auf, um nach den Spuren ihrer Familie zu forschen. Im Gepäck eine Urne mit der Asche ihres Bruders.

Die Reise mit Flugzeug, Eisenbahn und Auto endet auf einem tristen Kinderspielplatz an noch tristeren Plattenbauten, wo sie zusammenbricht. Es ist der Ort des einstigen Zwangslagers. Die Verflechtung der Handlungsebenen treibt der Regisseur auch mit den Mitteln der Personenregie voran. Die alte Frau alias Tochter zitiert singend Sequenzen aus der Partitur. Sie kann dabei beobachtet werden, wie sie im Gulag-Zentralarchiv nach Unterlagen zur Familiengeschichte sucht.

Im Oktober vergangenen Jahres gelingt dem aus Moskau stammenden Regisseur mit der Inszenierung von Richard Wagners Der fliegende Holländer in der Deutschen Oper am Rhein unter Einsatz des Mediums Film eine eindrucksvolle Charakterisierung Sentas. Das Kino avanciert im Milieu einer Vorstadt zu einem Rückzugsort, an dem Dalands Tochter ihren Erlösungstraum ungehindert ausleben kann. Mit dem Filmkonzept für Siberia wird diese Kunst noch übertroffen. Es steigert sich zu einem Opernkino des Verismo, das die Intention von Komponist und Textdichter betont, das wirkliche Leben zu zeigen.

Giordanos Musik ist Verismus pur mit barbarischen Ausbrüchen im Blech, in den zupackenden Violinen und der aufrüttelnden Pauke, die die extreme Leidenschaft der Liebenden wie die Verlorenheit der Totgeweihten schildert. Zu hören sind grelle Klangkaskaden, die wie auf und nieder stürzende Wasserfontänen eingesetzt werden. Die Partitur kennt zugleich romantische Passagen wie die beiden verführerischen Duette des Liebespaares, die von der Brutalität der Erzählung Illicas für Minuten ablenken.

Zeichnet sich Puccinis Madama Butterfly durch Übernahme asiatischer Klangelemente aus, machen bei Giordano Anleihen an russische Musik und Klangbilder das Spezifikum aus. Der Bogen reicht von der Einstimmung des Publikums mit einem A-capella-Gesang im Stil der russisch-orthodoxen Liturgie bis hin zu Balalaika-ähnlichen Klangformen und dem Lied der Wolgaschlepper, das der Chorgesang der Zwangsarbeiter aufgreift. Die gewollte Synthese von melodischer Italianatá und russischer Folklore ist zwar nicht durchgängig gelungen. Sie gibt dem Werk aber ein Alleinstellungsmerkmal. Das Beethoven Orchester Bonn mit Daniel Johannes Mayr, dem Ersten Kapellmeister, am Pult beweist in glänzender Verfassung, dass es nicht nur die Musiksprache Guiseppe Verdis beherrscht wie jüngst beim Maskenball.

Giordanos Gesangsstil umfasst dramatische Eruptionen, ariose Passagen und murmelndes Parlando. Den Sängern des weitgehend hauseigenen Ensembles verlangt er Flexibilität und Empathie ab. Die Sopranistin Yannick-Muriel Noah gestaltet die Doppelexistenz der Stephana mit ausgreifender Tessitur und großer Affinität zu den lyrischen wie den expressiven Facetten der Rolle. Spektakulär artikuliert sie ihr Credo Amor, amor, das den Freiheitsanspruch einer modern empfindenden Frau vorwegnimmt. Ihr ist George Oniani mit himmelsstürmendem, glasklarem und streckenweise robustem Tenor ein ebenbürtiger Partner, im Spiel ebenso überzeugend wie in der Kantilene. Gleby gibt Giorgos Kanaris markante Konturen. Seinem schwarz grundierten Bariton eignet das Faible für die Gemeinheiten, das die Rolle verlangt.

Susanne Blattert als Stephanas Dienerin Nikona, Santiago Sánchez als Fürst Alexis sowie Johannes Mertes, Michael Krinner, Martin Tzonev undJuhwan Cho in weiteren Rollen runden den vorzüglichen Gesamteindruck ab. Der von Marco Medved glänzend disponierte Chor trumpft mit Verismo-Format wie dem Gefühl für die russischen Adaptionen auf. Der im Finale inbrünstig angestimmte Choral vom auferstandenen Christus verleiht der Tragödie eine zwiespältige Überhöhung, die viel mit den Verhältnissen damals im Zarenreich und wohl auch mit dem neu erblühten, die Moderne verweigerndem Traditionalismus im heutigen Russland zu tun hat.

Die besondere Ambivalenz dieser Siberia-Produktion geht in dem eindeutigen wie einhelligen Jubel des Publikums unter, der in einer Serie von gellenden Bravo!-Rufen gipfelt. Gefeiert werden das Sängerensemble, der Chor, das Orchester, die Statisten und – mit einer spürbaren Herzlichkeit – das Regieteam um Barkhatov. Ein im Wesentlichen russisch besetztes und inspiriertes Kreativteam, dem das kollektive Wohlwollen entgegenschlägt – vielleicht eine zeitgeschichtliche Fußnote, die für ein bisschen Hoffnung steht.

Dr. Ralf Siepmann 

Copyright: Thilo Beu

 

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