Wenn eine Zeitgeist-Regie Mozarts und Da Pontes Figuren um ihre Würde bringt

Xl_dongiovanni_khp_100 Foto © Björn Hickmann

Don Giovanni Wolfgang Amadeus Mozart Besuch am 18. Januar 2025 Premiere

Theater Dortmund Opernhaus

Wenn eine Zeitgeist-Regie Mozarts und Da Pontes Figuren um ihre Würde bringt

Eine Frau am Boden. Buchstäblich. Don Ottavio breitet eine wärmende Decke über die schwangere Donna Anna aus. Derweil intoniert er seine Bravourarie Dalla sua pace, in der er seinen Seelenfrieden mit dem der Geliebten vereint. Diese rappelt sich wieder auf, deckt in einer Wohnstube im Stil des Gelsenkirchener Barock den Kaffeetisch. Zur letzten Paraphrase schneidet Donna Anna den Kuchen an und gießt ihrem Liebhaber den Kaffee ein. Mit etlichen solch irritierenden Szenen nimmt die Regisseurin Ilaria Lanzino den Figuren in Lorenzo Da Pontes und Wolfgang Amadeus Mozarts Dramma giocoso die Würde.

In Dortmunds Neuproduktion von Don Giovanni wird die galante Welt der Aristokratie, in der die Klassenschranken phasenweise aufgehoben sind – generell in der Erotik und speziell in der Ballszene im Schluss des ersten Akts – auf dem Altar des Zeitgeistes geopfert. Joseph Loseys Kinoverfilmung aus dem Jahr 1979 mit der Beschwörung der Sinnlichkeit höfischer Kostüme und stilisierter Lustgärten erscheint hier wie eine Reminiszenz von einem anderen Stern.

Im Verlangen, den Mythos vom unersättlichen Don Juan, der seinen Machismo skrupellos auslebt und verdientermaßen in der Hölle landet, in unsere Gegenwart zu übertragen, wird dem Komponisten ein übler Tort angetan. Die Inszenierung bewegt sich zwischen oktroyierten Rollenklischees, lächerlichen Einfällen und falschen Assoziationen. Mozarts witzig-parodistisches Spiel mit Sarkasmus und Ironie, das auch dem Wüstling einen Rest Menschlichkeit bewahrt, wird auf die Zeitgeist-Ebene des Geschlechterkampfs herunter nivelliert.

Konsequenterweise geht der zweite Aufzug mit der Höllenfahrt des Unholds abrupt zu Ende. Das auf Moral und Trost zielende Schlusssextett fällt aus. Mozart selbst plant im Mai 1788, sechs Monate nach der Prager Uraufführung, es für die Übernahme in das Wiener Hoftheater zu streichen, hat dafür aber gänzlich andere Gründe. Er verzichtet am Ende auf die Umsetzung.

Anlässlich des von Stephan Kimmig 2009 an der Bayerischen Staatsoper eingerichteten Don Giovanni formuliert der damalige Münchner Intendant Nikolaus Bachler seine Ideallinie für Inszenierungen. Aufführungen, sagt Bachler, würden immer für die Gegenwart gemacht. Opern zu inszenieren bedeute, aus dem Heute Referenzen zum Werk mit seiner Biographie herzustellen. Es komme darauf an, Antworten zu finden, die die Menschen erreichten und künstlerisch überzeugten.

Erst im vergangenen September hat Lanzino in ihrer Annäherung an Guiseppe Verdis Nabucco für die Düsseldorfer Oper die Originalschauplätze – Tempel von Jerusalem, Burg und Hängende Gärten zu Babylon, Ufer des Euphrats – in ein erschreckend heutiges Jetzt transformiert. Lange Videosequenzen von Hochhäusern und vom alltäglichen Leben in diesen Wohnsilos während der Ouvertüre lassen Spekulationen über Zeit und Ort der Inszenierung gegenstandslos erscheinen. Ihr neuerlicher Anlauf, die künstlerische Idee einer Adaption des Werks aus dem Heute in Bühnenwirklichkeit umzusetzen, fällt noch einige Grade krasser aus.

Für die Regisseurin ist der Titelheld ein Don Juan, der sich im 21. Jahrhundert neu orientieren und behaupten muss. In einem Jahrhundert, das die Beziehungen zwischen den Geschlechtern umdefiniert und neuen Begrenzungen aussetzt. Don Giovannis Viva la libertà!, mit dem er die Gäste seines Maskenballs willkommen heißt – in Wahrheit eine Devise erotischer Freizügigkeit –, hat bei Lanzino völlig ausgespielt. In den Mittelpunkt ihres Konzepts rückt sie drei Frauen, Zerlina, Anna, Elvira, die herausgefordert durch das Monster Giovanni um ihre Identität ringen. Sie repräsentieren drei Generationen, deren Selbstbilder derzeit auf Social Media aller Provenienz verhandelt werden.

Direkt mit der machtvoll in D-Moll grollenden Ouvertüre wird dem Publikum diese Sichtweise aufgedrängt. Vor einem tiefschwarzen Vorhang beobachten Giovanni und Leporello das Erscheinen der drei Frauen, wozu der Diener die Eroberungen seines Herrn in spe in einen Schreibblock einträgt. In Frank Philipp Schlößmanns Ausstattung teilt der schwarze Vorhang die Bühne in zwei Sektoren. Ist er geschlossen, dient er einem Großteil der Rezitative als Hintergrund. Ist er geöffnet, wobei jedes Öffnen wie ein Opening zur nächsten Handlungssequenz fungiert, gibt er den Blick frei auf Ess-, Wohn- und Schlafzimmer im Hintergrund.

Die Wohnlandschaft konfrontiert die Besucher mit einer Bühnenwelt, die dem Vorstadtmilieu des Ruhrgebiets in den 50er-Jahren nachempfunden sein könnte. Kaum sind das Esszimmer und das dahinter angeordnete Schlafzimmer überstanden, in dem sich Giovannis Versuch der Vergewaltigung Annas abspielt, überrascht das Regieteam mit einem Badezimmer samt billigem Duschvorhang und grasgrünen Kacheln.

Ausgiebig darf sich hier Donna Elvira mit der Renovierung ihrer äußeren Erscheinung beschäftigen. Muss doch die in die Jahre gekommene Ex Giovannis so weit wie möglich ihr tatsächliches Alter überspielen, da sie sich auf einer Art Parship-Plattform mit etlichen Kavalieren verabredet hat. Warum ihr in der Badewanne ausgerechnet Giovanni und Leporello auflauern, zählt zu den Wunderlichkeiten der Inszenierung. Schon an dieser Stelle taucht die Frage auf, ob Besucher einer Don Giovanni-Aufführung die Versatzstücke eines Milieus erleben wollen, das sie möglicherweise mit vergilbten Ansichten des Zuhause ihrer Großeltern in Verbindung bringen.

Lanzino räumt im Übrigen der Edelfrau keine Chancen im Markt der Partnerschaften ein. Eine junge Statistin führt Elvira indirekt vor und einige junge Männer wie an einem Seil hinter sich her, die ihr zu Liebesdiensten sind. Die Badewanne schafft es später in den zweiten Aufzug. Erst bietet sie Elvira einmal mehr Zuflucht. Dann fungiert sie als Kühltruhe für das Festessen, das Giovanní dem Commendatore verspricht.

An Frivolitäten, teils erhellend, teils banal, ist in Lanzinos nivellierter Mittelklassegesellschaft kein Mangel, für die Emine Güner bei Ausnahme der Titelfigur adäquate Kostüme entworfen hat. Don Giovanni darf in einem aristokratisch anmutenden schwarzen Umhang mit tiefrotem Innenfutter agieren. Gegen ihn fällt Masetto, der einfältige, aber liebenswerte Bauernjunge in seinem weißen Hochzeitsaufzug umso deutlicher ab. Dieses Weiß der intendierten Unschuld findet sich einzig noch bei seiner Verlobten, der Bäuerin Zerlina. Sie hat allerdings keine Hemmungen, sich mit Giovanni zu vereinen, wofür sie auch passender Weise ein Kondom bereithält.

Mag man hier noch schmunzeln, so erstaunlich wie befremdlich wirkt der Säugling, den Anna als Folge mutmaßlich einer vorherigen Verbindung im zweiten Aufzug in ihren Armen wiegt und am Ende in einem Kinderwagen an Don Ottavio vorbei bewegt, dessen Aussichten auf eine rasche Heirat damit vorläufig beendet erscheinen. Wie das Baby in augenscheinlicher Rekordzeit zur Welt gekommen ist, obwohl der Kern der Handlung innerhalb lediglich eines ganzen Tages spielt, gehört mit zu den Rätseln dieser Inszenierung. Nun scheinen bei Lanzino eh einflussreiche Mythen im Spiel. An der Rückwand des Schlafzimmers ist eine Abbildung des Haupts der Medusa angebracht. Mit züngelnden weißen Schlangen umspielt, taucht die Ikone zur Umrahmung von Giovannis Höllenfahrt erneut auf.

Für eine Besetzung aus dem Ensemble ist die Dortmunder Aufführung eine durchaus passable, in einigen Passagen auch mitreißende Produktion. Getragen, inspiriert und partnerschaftlich begleitet von den Dortmunder Philharmoniker. Mit den herausragenden Holzbläsern um Klarinette und Fagott als ihrem melodiösen Stimmungszentrum. Dem Barockmusikspezialist George Petrou am Pult gelingt es im wahrsten Sinne des Wortes spielend, den phasenweise desaströsen Eindruck der Inszenierung vergessen zu machen.

In der Titelrolle gibt Denis Velev mit robust timbriertem Bass und formidabler Spielfreude Takt und Tempo vor. Morgan Moody eifert ihm als Leporello mit Gespür für den Witz der Figur des Dieners mit Bravour nach. Sungho Kim macht aus der Partie des Don Ottavio das Beste, bleibt aber die „keusche höhere Form der Gefühle“ schuldig, die Arnold Schönberg seiner G-Dur-Soloarie zuschreibt. Als Masetto gefällt Daegyun Jeong mit der Frische seiner Bewegungen und seines Baritons. Artyom Wasnetsov ist ein beeindruckender Commendatore, der selbst noch im Todesterzett mit Giovanni und Leporello noble Gefasstheit ausstrahlt.

Sooyeon Lee als Zerlina zu erleben, ist eine wahre Freude. Sie konturiert die Facetten dieser Figur im Übergang von der Rokokoschäferin zur aufgeklärten Bürgerin, betört von Giovanni, dominant gegenüber Masetto, mit ihrem silbrig-liedhaften Sopran unwiderstehlich. Da lässt sich auch verschmerzen, dass Lanzino ihr in der Rollencharakterisierung eine erotische Leichtfertigkeit vorgibt, die dem Mädchen vom Lande im Libretto nicht entspricht. Anna Sohn als Donna Anna zeichnet die hyperemotionale „höhere Tochter“, entflammbar für die Liebe wie die Rache, mit der Leuchtkraft ihres flexiblen Soprans. Als Donna Elvira, von Mozart und Da Ponte mit Noblesse und der Attitüde der Wilden als Gegentyp zu Donna Anna gefasst, irrlichtert Tanja Christine Kuhn durch die Szene. Sie zahlt spielerisch wie stimmlich im Bemühen drauf, der Figurenzeichnung durch die Regisseurin gerecht zu werden. Der Opernchor, einstudiert von Fabio Mancini, erledigt seine Auftritte mit Elan.

Einige Buhrufe im anhaltenden Jubel für alle Mitwirkenden gelten offenkundig dem Regieteam. Der sich steigernde Beifall für die Philharmoniker und den Zauberer am Pult lässt ahnen, wie stark der „wahre“ Mozart, seine hinreißende Musik, einmal mehr Herz und Seele erreicht. So seit bald 250 Jahren und gewiss auch weiterhin.

Dr. Ralf Siepmann

Foto © Björn Hickmann

 

 

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